Der Bundesrat hat in seiner 877. Sitzung am 26. November 2010 gemäß § § 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat unterstützt die Anstrengungen der Kommission zur weiteren Verbesserung der regulatorischen Rahmenbedingungen der EU und begrüßt den neuen inhaltlichen Ansatz der Kommission zum Thema "Intelligente Regulierung".
- 2. Er ist der Auffassung, dass das Thema "Intelligente Regulierung" den gesamten Politikzyklus betrifft und ein gemeinsames Ziel darstellt, das aber in jeweils eigenständiger Verantwortung der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten liegt. In diesem Sinne sieht der Bundesrat in der Verbesserung des regulatorischen Umfelds in der EU, einschließlich der Verringerung der Bürokratiekosten, ein Schlüsselelement der Europa-2020-Strategie. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer, insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) und zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung in Europa insgesamt geliefert.
- 3. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die Ankündigung der Kommission, systematische Expost-Bewertungen der bestehenden Vorschriften und umfassende Eignungstests ausgewählter Politikbereiche als Grundlage für die Überarbeitung von Rechtsakten vorzunehmen. Diese neuen Instrumente können einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Vollzugskosten bei Bürgerinnen und Bürgern, Wirtschaft und Verwaltung leisten. Die deutschen Länder verfügen über ein breites Wissen hinsichtlich des Vollzugs von EU-Recht. Dieses kann durch die Integration in die "Eignungstests" genutzt werden, um intelligente Rechtsetzung mit innovativem Vollzug zu verbinden. Hierzu ist es insbesondere erforderlich, dass die Regionen in die Evaluierung der Kostenfolgen und des Nutzens von EU-Maßnahmen im Sinne eines "Realitäts-Checks" eingebunden werden.
Abbau der Verwaltungslasten
- 4. Die Zusammenführung der Programme zur Vereinfachung von EU-Recht wie zur Reduzierung von Verwaltungslasten darf nach Auffassung des Bundesrates nicht dazu führen, dass die eigentlichen Forderungen nach einem wirksamen und für den Einzelnen spürbaren Bürokratieabbau auf EU-Ebene einerseits und nach Vermeidung von erheblichen Kostenfolgen für die öffentlichen Haushalte der Mitgliedstaaten andererseits aus dem Fokus des Kommissionshandelns geraten.
- 5. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Abbauvorschläge der Kommission sich bislang auf Belastungen beziehen, die ausschließlich der Wirtschaft durch die Auferlegung von Informationspflichten entstehen. Statistik- und Dokumentationspflichten stellen allerdings nur einen Teil der tatsächlichen Bürokratiebelastung für die Wirtschaft, die Bürgerinnen und Bürger und die Verwaltungen der Mitgliedstaaten dar.
- 6. Vor diesem Hintergrund regt der Bundesrat für eine weiterhin anspruchsvolle EU-Agenda zum Abbau von Bürokratielasten an, das "Aktionsprogramm zur Verringerung der Verwaltungslasten" auf die sogenannten Erfüllungskosten, die durch Befolgung inhaltlicher EU-Vorgaben entstehen, auszudehnen und in diesem Zusammenhang ein weiteres anspruchsvolles Reduktionsziel für den gesamten gemessenen Erfüllungsaufwand festzulegen.
- 7. Der Bundesrat begrüßt die Verlängerung des Mandats der Hochrangigen Gruppe unabhängiger Interessensvertreter im Bereich Verwaltungslasten und insbesondere den vorgesehenen strukturierten Dialog mit dem kommissionsinternen Ausschuss für Folgenabschätzung. Dadurch kann die Expertise der Gruppe auch stärker bei der Vermeidung neuer Bürokratie einfließen. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Hochrangige Gruppe bis zum Auslaufen ihres Mandats im Jahre 2012 einen Abschlussbericht ihrer Tätigkeit mit politischen Handlungsempfehlungen vorlegen sollte.
Umsetzung von EU-Recht in den Mitgliedstaaten
- 8. Der Bundesrat unterstützt die Kommission bei ihren Bemühungen, mit einem ebenenübergreifenden Ansatz das Thema "Intelligente Regulierung" voranzubringen und den weiteren Abbau von Verwaltungslasten zu garantieren. Er nimmt dabei zur Kenntnis, dass die Kommission die angebliche Praxis nationaler Gremien näher untersuchen möchte, bei der Anwendung und Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht weit über die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts hinauszugehen ("Gold Plating"). Er betont, dass hierdurch der Fokus der Deregulierungsaktivitäten nicht einseitig auf die Mitgliedstaaten verlagert werden darf. Auch muss darauf geachtet werden, dass die Kommission ihre Befugnisse, die darauf beschränkt sind, über die korrekte Umsetzung zu wachen, nicht überschreitet.
- 9. Der Bundesrat verkennt nicht, dass unter dem Aspekt des Bürokratieabbaus der 1:1-Umsetzung von EU-Vorgaben im nationalen Kontext Priorität einzuräumen ist. Gleichwohl weist er darauf hin, dass es gerade Sinn und Zweck von Richtlinien ist, den Mitgliedstaaten eine eigenständige Umsetzung von EU-Vorgaben ins nationale Recht zu erlauben, die die nationale Gesetzgebung sinnvoll ergänzt, aber nicht verdrängt oder ersetzt. Die Art und Weise der Umsetzung kann auch nur von den Mitgliedstaaten sinnvoll beurteilt werden, die den Kontext des jeweiligen Rechtsgebietes auch im Hinblick auf bereits bestehende nationale Rechtsakte am besten kennen.
Folgenabschätzungen
- 10. Der Bundesrat begrüßt die angekündigten Verbesserungen des Folgenabschätzungsverfahrens und die herausgehobene Bedeutung, welche die Kommission einer plausiblen Folgenabschätzung bei neuen EU-Rechtsvorschriften in Zukunft beimessen will.
- 11. In diesem Zusammenhang werden auch die Pläne der Kommission zur stärkeren Einbeziehung von Betroffenen und Interessensträgern in den europäischen Rechtsetzungsprozess, u.a. durch Verlängerung der Konsultationsfristen von acht auf zwölf Wochen ab dem Jahr 2012 sowie durch die Überprüfung der bestehenden Instrumente der Anhörungsverfahren, ausdrücklich unterstützt.
- 12. Positiv zu werten ist, dass Folgenabschätzungen der Kommission zukünftig verstärkt quantitative Kosten-/Nutzenanalysen enthalten sollen. Die aus Sicht der Kommission schwierige Beschaffung von Datenmaterial für alle 27 Mitgliedstaaten darf aber keine neuen bürokratischen Anforderungen an die nationalen Verwaltungen zur Folge haben. Wichtig ist vielmehr die Nutzung bereits verfügbarer Daten sowie die diesbezüglich angekündigte verstärkte Einbeziehung der Regionen Europas, die vielfach für die Umsetzung und insbesondere den Vollzug der europäischen Normen verantwortlich sind.
- 13. Erfreulich ist ebenfalls, dass die Kommission zur Verbesserung der Transparenz von Folgenabschätzungsverfahren die Entwicklung sogenannter Ablaufpläne ("road maps") zukünftig auf alle Vorhaben mit voraussichtlich "signifikanten" Auswirkungen ausdehnen will. Die Ablaufpläne bieten damit eine wertvolle Hilfe bei der frühzeitigen Mitwirkung, u.a. der nationalen und regionalen Parlamente und Verwaltungen, beim europäischen Regulierungsprozess.
- 14. Der Bundesrat kritisiert aber erneut, dass die Kommission trotz seiner mehrfachen Aufforderungen Folgenabschätzungen weiterhin lediglich bei Vorhaben mit "signifikanten" Folgen durchführen will. Der Bundesrat weist erneut darauf hin, dass erst die Durchführung eines Folgenabschätzungsverfahrens deutlich macht, ob und welche bedeutsamen Folgen das Vorhaben mit sich bringt. Daher sollte jeder neue Regelungsvorschlag der Kommission auch eine nachvollziehbare Aussage über die damit verbundenen Auswirkungen insbesondere im Hinblick auf Verwaltungslasten für die einzelnen Entscheidungs- und Verwaltungsebenen enthalten. Zumindest sollte entsprechend den Handlungsempfehlungen des Europäischen Rechnungshofs vom September 2010 zur Verbesserung des Folgenabschätzungsverfahrens durch die Kommission ausführlich begründet werden, weshalb von einer Folgenabschätzung abgesehen wird.
- 15. Der Bundesrat unterstreicht wie die Kommission die Mitverantwortung des Rates und des Europäischen Parlaments für eine qualitativ hochwertige Folgenabschätzung im Rahmen des EU-Gesetzgebungsverfahrens. Der Bundesrat bemängelt dabei erneut, dass im Falle von Änderungen am ursprünglichen Gesetzgebungsvorschlag im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens weder die Kommission noch das Europäische Parlament oder der Rat in den überwiegenden Fällen die Auswirkungen dieser Änderungen analysiert und die Folgenabschätzungen entsprechend aktualisiert haben. Damit bleiben die geschätzten Folgen der endgültigen Rechtsakte insbesondere hinsichtlich der damit einhergehenden Bürokratiekosten selbst im Falle substantieller Änderungen nach wie vor im Unklaren.
- 16. Der Bundesrat erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass der EU-Gesetzgeber die Kommission bereits nach dem aktuellen Gemeinsamen Interinstitutionellen Konzept für die Folgenabschätzung auffordern kann, ihre ursprüngliche Folgenabschätzung im Lichte der vom Europäischen Parlament und vom Rat angenommenen Änderungen zu aktualisieren.
- 17. Unabhängig davon unterstreicht der Bundesrat die Notwendigkeit, dass auch der Rat und das Europäische Parlament die notwendigen verfahrensmäßigen und personellen Voraussetzungen schaffen, um eigene Folgenabschätzungen zu erstellen bzw. Folgenabschätzungen der Kommission infolge wesentlicher Änderungen am ursprünglichen Kommissionsvorschlag zu aktualisieren. Zur Vermeidung von Doppelarbeit in den Institutionen ruft er dabei die Kommission auf, die gesammelten Daten, auf deren Grundlage die Kommission ihre Folgenabschätzungen erstellt hat, Rat und Europäischem Parlament zur Verfügung zu stellen. Insgesamt muss es Ziel sein, dass durch eine engere interinstitutionelle Zusammenarbeit zu jedem Zeitpunkt des Legislativverfahrens aktuelle und aussagekräftige Folgenabschätzungen als Grundlage für die politische Entscheidungsfindung genutzt werden können.
- 18. Der Bundesrat bedauert, dass die Kommission trotz weiterhin bestehender Unzulänglichkeiten ihrer Folgenabschätzungen in der Vergangenheit eine externe (Qualitäts-) Kontrolle ihrer eigenen Folgenabschätzungen durch ein unabhängiges Gremium unter Verweis auf ihr Initiativmonopol beharrlich ablehnt. Die Ansicht der Kommission, dass ein externes Gremium zur Überwachung der Folgenabschätzung nicht notwendig sei, wird nicht geteilt. Der Bundesrat ist vielmehr der Auffassung, dass bei der Kommission ein unabhängiger Rat für Bürokratieabbau nach Vorbild des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) eingerichtet werden sollte. Mit einem derartigen unabhängigen "Norm-TÜV" könnten auf EU-Ebene qualitativ hochwertige und nachvollziehbare Folgenabschätzungen "aus einer Hand" sichergestellt werden, ohne das institutionelle Gleichgewicht der Gemeinschaft zu gefährden. Ferner würde von vornherein jeglicher Interessenskonflikt vermieden.
Intelligente Regulierung auch auf Ebene der Mitgliedstaaten
- 19. Wie die Kommission ist auch der Bundesrat der Auffassung, dass auch auf nationaler Ebene Anstrengungen für eine bessere Rechtsetzung notwendig sind. Die geplante Untersuchung neuer Regelungsvorschläge auf Bundesebene im Hinblick auf den sogenannten Erfüllungsaufwand stellt einen weiteren wichtigen Baustein für eine Entlastung von Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verwaltung von unnötiger Bürokratie dar.
Direktzuleitung der Stellungnahme
- 20. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.