976. Sitzung des Bundesrates am 12. April 2019
Der federführende Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In), der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik (AIS), der Ausschuss für Frauen und Jugend (FJ) und der Ausschuss für Familie und Senioren (FS) empfehlen dem Bundesrat, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
1. Zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe b (§ 12a Absatz 1a AufenthG)
In Artikel 1 Nummer 1 ist Buchstabe b zu streichen.
Begründung:
Bei unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländern gilt das Primat der Jugendhilfe. Sie werden daher in einem eigenen jugendhilferechtlichen Zuweisungs- und Verteilverfahren auf die Länder verteilt. Bei Eintritt der Volljährigkeit erhalten diese Personen in der Mehrzahl der Fälle weiterhin jugendamtliche Unterstützung als Hilfe für junge Volljährige (vgl. BT-Drucksache 19/4517, Seite 33 f.; BumF, von Nordheim/Karpenstein/Klaus, Die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland, Berlin, 2017, Seite 54). Die Ausweitung der Wohnsitzregelung auf diese weiter unter amtlicher Obhut stehenden Personen schränkt die Arbeit der Jugendhilfe ein. So bedürfen unter Gesichtspunkten der Jugendhilfe angezeigte Ortsveränderungen der jungen Volljährigen einer vorherigen Anerkennung eines Härtefalls durch die Ausländerbehörde.
Eine ausländerbehördliche Entscheidung über die Aufhebung der Wohnsitzverpflichtung ist ausnahmslos in allen Fällen vonnöten, in denen eine Unterbringung aus Gesichtspunkten der Jugendhilfe in einem anderen Land als dem in der Zuweisungsentscheidung bestimmten, erfolgt. Damit entsteht zumindest in diesen Fällen ein zusätzlicher Arbeitsanfall bei den Ausländerbehörden, die künftig jugendamtliche Entscheidungen in einem zusätzlichen Verwaltungsverfahren nachvollziehen müssen. Das sollte angesichts des ohnehin weiter hohen Arbeitsanfalls bei den Ausländerbehörden vermieden werden.
Angesichts der im Regelfall fortbestehenden engen Bindung der Betroffenen an die Jugendämter ist zudem insgesamt davon auszugehen, dass die jungen Volljährigen in erheblich geringerem Maße den Wohnort wechseln, als dies Erwachsene tun, denen keine behördliche Betreuung zuteil wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt besteht nicht die Notwendigkeit, junge Volljährige in den Anwendungsbereich der Wohnsitzregelung aufzunehmen.
2. Zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe c ( § 12a Absatz 3 AufenthG)
In Artikel 1 Nummer 1 ist Buchstabe c wie folgt zu fassen:
"c) Absatz 3 wird wie folgt geändert:
- aa) Nach den Wörtern "wenn dadurch" wird das Wort "insbesondere" eingefügt.
- bb) In Nummer 2 wird das Wort "und" durch das Wort "oder" ersetzt."
Begründung:
Die Regelung des § 12a Absatz 3 AufenthG war von Anfang an problematisch, da die Kriterien Wohnraumversorgung sowie Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gegenläufig sind. Wo der Arbeitsmarkt günstig ist, ist der Wohnungsmarkt in der Tendenz eher angespannt und umgekehrt. Dadurch ist es oft nicht möglich, beide Kriterien kumulativ zu erfüllen, und es entsteht ein rechtliches Risiko. Die bisherigen Erfahrungsberichte weisen darauf hin, dass eine nachhaltige Integration auch dann gefördert werden kann, wenn nicht zwingend alle drei Kriterien kumulativ vorliegen. Insofern bedarf es einer flexibleren Ausgestaltung dieser Vorschrift.
Nicht verbessert wird die Regelung zudem durch die im Gesetzentwurf vorgesehene Einfügung des weiteren möglichen Kriteriums der Bildungs- und Betreuungsangebote, das die Kommunen begünstigt, die ihrer Verpflichtung nicht in ausreichendem Maße nachkommen, in jedem Fall die erforderlichen Schul- und Betreuungsangebote zu schaffen. Die vorgesehene Regelung würde sogar einen Anreiz setzen, diese Angebote nicht auszubauen. Auf die Nennung dieses Kriteriums sollte daher verzichtet werden. Länder, die sich bei ihrer Zuweisungsentscheidung darauf stützen wollen, könnten dies vor dem Hintergrund der Formulierung "insbesondere" trotzdem tun.
Hilfsempfehlung zu Ziffer 2:
3. Zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe c ( § 12a Absatz 3 AufenthG)
In Artikel 1 Nummer 1 ist Buchstabe c wie folgt zu fassen:
"c) Absatz 3 wird wie folgt gefasst:
(3) Ein Ausländer, der der Verpflichtung nach Absatz 1 unterliegt, kann innerhalb von sechs Monaten nach Anerkennung oder erstmaliger Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verpflichtet werden, längstens bis zum Ablauf der nach Absatz 1 geltenden Frist seinen Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen, wenn dadurch seine nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland gefördert werden kann. Bei der Entscheidung nach Satz 1 ist zu berücksichtigen, ob
- 1. seine Versorgung mit angemessenem Wohnraum,
- 2. sein Erwerb hinreichender mündlicher Deutschkenntnisse im Sinne des Niveaus A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen und
- 3. unter Berücksichtigung der örtlichen Lage am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert werden kann. Zudem können besondere örtliche, die Integration fördernde Umstände berücksichtigt werden, insbesondere die Verfügbarkeit von Bildungs- und Betreuungsangeboten für minderjährige Kinder und Jugendliche." "
Begründung:
Die Anordnung "positiver Wohnsitzauflagen" nach § 12a Absatz 3 AufenthG steht im Ermessen der Ausländerbehörde und setzt voraus, dass durch die Wohnsitzauflage
- 1. die Versorgung mit angemessenem Wohnraum,
- 2. der Erwerb hinreichender mündlicher Deutschkenntnisse und
- 3. die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert werden können.
Diese Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen und machen deutlich, dass an diese Form der Wohnsitzauflage hohe materiellrechtliche Anforderungen gestellt werden, da grundsätzlich im Rahmen einer Einzelfallprüfung alle drei Voraussetzungen positiv festzustellen sind.
Nach den bisherigen Erfahrungen erfordern für die Integration förderliche Entscheidungen allerdings nicht zwingend das kumulative Vorliegen der drei Hauptkriterien Wohnraum, Spracherwerb und Arbeit. Vielmehr sprechen die von den Ländern eingebrachten Erfahrungen aus der Anwendungspraxis - unter Beibehaltung des integrationspolitischen Ziels der Wohnsitzregelung - für eine flexiblere Handhabung dieser für eine gelingende Integration besonders bedeutsamen Kriterien.
4. Zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe d Doppelbuchstabe aa Dreifachbuchstabe ccc - neu - (§ 12a Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 Buchstabe c AufenthG)
In Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe d ist dem Doppelbuchstabe aa folgender Dreifachbuchstabe anzufügen:
"ccc) In Nummer 2 Buchstabe c wird das Wort "entstehen." durch die Wörter "entstehen; eine unzumutbare Einschränkung besteht insbesondere, wenn die Verpflichtung oder Zuweisung nach den Absätzen 1 bis 4 eine gewalttätige oder gewaltbetroffene Person an den bisherigen Wohnort bindet, einer Schutzanordnung nach dem Gewaltschutzgesetz oder sonstigen zum Schutz vor Gewalt, insbesondere häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt, erforderlichen Maßnahmen entgegensteht." ersetzt."
Begründung:
In der Einzelbegründung zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe d Doppelbuchstabe bb wird im zweiten Absatz hervorgehoben, dass eine "unzumutbare Einschränkung" in § 12a Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 Buchstabe c AufenthG besteht, wenn die Wohnortverpflichtung eine gewalttätige oder gewaltbetroffene Person an einen Wohnort bindet, einer Gewaltschutzanordnung oder sonstigen zum Schutz vor Gewalt erforderlichen Maßnahmen entgegensteht (vergleiche Seite 7). Wegen der besonderen Wichtigkeit dieser Hervorhebung wird sie unmittelbar im Gesetzeswortlaut aufgenommen.
5. Zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe e (§ 12a Absatz 10 AufenthG)
In Artikel 1 Nummer 1 ist Buchstabe e zu streichen.
Begründung:
§ 12a Absatz 10 AufenthG-E sieht einen Rückgriff auf die allgemeine Ermächtigung des § 12 Absatz 2 Satz 2 AufenthG vor, Visa und Aufenthaltserlaubnisse mit Auflagen (und damit auch Wohnsitzauflagen) zu verbinden.
Dies ist zum einen aus gesetzessystematischen Gründen abzulehnen, da § 12a AufenthG eine abschließende Regelung für anerkannte und aufgenommene Flüchtlinge darstellt, was auch in der Gesetzesbegründung nicht bestritten wird. Zum anderen steht zu befürchten, dass die vorgesehene Ermächtigung zu einer uneinheitlichen Anwendung in der ausländerbehördlichen Praxis führt:
Nach der Gesetzesbegründung soll die Regelung in Ausnahmefällen - wobei offen bleibt, welche Ausnahmefälle gemeint sein könnten - und auch nur dann zulässig sein, wenn dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung in allen Fällen Rechnung getragen wird, wobei auch eine besondere Begründung erforderlich ist.
Dies dürfte in der Praxis dazu führen, dass viele Ausländerbehörden wegen der vorgegebenen engen Grenzen auf diese Möglichkeit ganz verzichten werden (in diesem Fall wäre die Regelung entbehrlich); nicht auszuschließen ist aber auch, dass einige Ausländerbehörden in Verkennung der komplizierten Rechtslage regelmäßig nach Ablauf der dreijähren Wohnsitzauflage nach § 12a AufenthG eine solche nach § 12 Absatz 2 AufenthG verfügen.
6. Zu Artikel 1 Nummer 2 (§ 72 Absatz 3a Satz 5 - neu - AufenthG)
Dem Artikel 1 Nummer 2 § 72 Absatz 3a ist folgender Satz anzufügen:
"Satz 1, Satz 2 zweiter Halbsatz, Satz 3 und 4 gelten für die Aufhebung oder Änderung einer Wohnsitzverpflichtung, die auf der Grundlage von § 12 Absatz 2 Satz 2, § 61 Absatz 1d oder § 60 des Asylgesetzes begründet wurde, entsprechend."
Begründung:
In der ausländerbehördlichen Anwendung führen Verfahren zur Aufhebung oder Änderung einer Wohnsitzauflage des Öfteren auch in den genannten Fällen zu Problemen, insbesondere bei länderübergreifenden Umzügen. Zur Gewährleistung einer einheitlichen Verfahrensweise sollten daher auch die weiteren Vorschriften zu Wohnsitzauflagen und zur Wohnsitzbeschränkung nach § 12 Absatz 2 Satz 2, § 61 Absatz 1d AufenthG und § 60 AsylG in § 72 Absatz 3a AufenthG-E aufgenommen werden.
7. Zu Artikel 1 Nummer 3 (§ 104 Absatz 14 AufenthG), Artikel 2 (Artikel 8 Absatz 5, 6 Integrationsgesetz)
- a) Artikel 1 Nummer 3 ist wie folgt zu fassen:
"3. In § 104 Absatz 14 wird die Angabe "6. August 2019" jeweils durch die Angabe "6. Februar 2022" ersetzt."
- b) Artikel 2 ist wie folgt zu fassen:
"Artikel 2
Änderung des IntegrationsgesetzesArtikel 8 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) wird wie folgt geändert:
- 1. In Absatz 5 wird die Angabe "6. August 2019" durch die Angabe "6. Februar 2022" ersetzt.
- 2. Absatz 6 wird aufgehoben."
Begründung:
Die mit dem Integrationsgesetz eingeführte Wohnsitzregelung des § 12a AufenthG ist ab Inkrafttreten auf drei Jahre, bis zum 6. August 2019, befristet. Eine Evaluation des Integrationsgesetzes ist jedoch erst spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten vorgesehen und liegt bisher noch nicht vor. Es ist daher bisher nicht bekannt, ob die Wohnsitzregelung sich in dem mit dem Integrationsgesetz verfolgten integrationspolitischen Gesamtansatz positiv auswirkt und die Integration der betroffenen Personengruppe fördert und integrationshemmenden Segregationstendenzen entgegenwirkt. Deshalb soll die Regelung zunächst um weitere zweieinhalb Jahre verlängert werden, damit ihre Entfristung dann auf Grundlage der spätestens am 6. August 2021 vorzulegenden Evaluationsergebnisse entschieden werden kann.