COM (2018) 132 final
Der Bundesrat hat in seiner 968. Sitzung am 8. Juni 2018 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat erkennt an, dass die Kommission mit der Initiative zum Zugang zum Sozialschutz den Grundsatz Nummer 12 der Europäischen Säule sozialer Rechte umsetzt. Er begrüßt grundsätzlich die Zielrichtung des Vorschlags für eine Empfehlung des Rates, allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Selbstständigen in den Mitgliedstaaten Zugang zu einem angemessenen Sozialschutz zu gewähren.
- 2. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die Erhaltung und Weiterentwicklung der sozialen Absicherung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Selbstständigen vor dem Hintergrund von - auch durch die zunehmende Digitalisierung - neu entstehenden Arbeitsformen besonderer Aufmerksamkeit bedarf.
- 3. Angesichts der vorrangigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Sozialpolitik begrüßt er die Entscheidung der Kommission, sich im vorliegenden Fall im Rahmen einer Empfehlung und nicht etwa in einer Richtlinie zu notwendigen Reaktionen auf nationaler Ebene zu äußern. Der Bundesrat begrüßt die Anregungen an die einzelnen Mitgliedstaaten, im Rahmen der nationalen Notwendigkeiten tätig zu werden. Die Vielfalt der mitgliedstaatlichen Sicherungssysteme trägt den nationalen Besonderheiten Rechnung und stellt sicher, dass die besonderen Gegebenheiten eines jeden Mitgliedstaates ausreichend berücksichtigt werden können.
- 4. Der Bundesrat verweist auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre sozialen Sicherungssysteme. Trotz des Empfehlungscharakters ist darauf zu achten, dass das Vorgehen der EU das Recht der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, nicht beeinträchtigen darf (Artikel 153 Absatz 4 AEUV). Dies gilt insbesondere für den abzusichernden Personenkreis und das jeweilige Schutzniveau unter Berücksichtigung der finanziellen Tragfähigkeit der Sozialsysteme.
- 5. Er sieht hinsichtlich der geplanten Einrichtung eines "Benchmarking"-Rahmens sowie der Entwicklung von Indikatoren für das Monitoring und die Evaluierung in Nummer 19 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung noch offene Fragen bzw. vertieften Diskussionsbedarf. So ist unklar, welche Referenzrahmen hierbei festgelegt werden und welche Konsequenzen für die Mitgliedstaaten damit verbunden sind. Im Vordergrund sollte daher ein freiwilliger Austausch von Informationen und bewährten Verfahren stehen.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die einzelnen Empfehlungsbestandteile in inhaltlicher Hinsicht sehr detailliert ausgestaltet sind. Einige der genannten Empfehlungen stehen nicht im Einklang mit dem derzeitigen Alterssicherungssystem in Deutschland, das sowohl auf der Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung sozialer Sicherheit als auch der Verantwortung des Einzelnen zur zusätzlichen Vorsorge aufbaut. Dies wäre im Rahmen der Umsetzung und der Ausarbeitung von Aktionsplänen über die auf nationaler Ebene ergriffenen Maßnahmen (Nummer 20 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung) entsprechend zu berücksichtigen.
- 7. Im Übrigen begegnet der Vorschlag der Ratsempfehlung insbesondere aufgrund der konkreten und detaillierten Ausgestaltung in inhaltlicher Hinsicht Bedenken. Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei den Ratsberatungen deutlich zu machen, dass die Umsetzbarkeit im Einzelnen geprüft wird.
Der Bundesrat hält darüber hinaus die Prüfung bzw. Berücksichtigung folgender Aspekte für erforderlich:
- a) So müssen Anwendungsbereich (Nummern 1 bis 6 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung) einerseits, Regelungen zur formellen (Nummern 8, 9 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung) und tatsächlichen Absicherung (Nummern 10, 11 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung) andererseits in Einklang gebracht werden: Gemäß Nummern 1 und 2 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung erstreckt sich der Anwendungsbereich der Empfehlung auf das gesamte Sozialsystem und erlaubt eine Kombination verschiedener Systeme. Das schließt Sozialhilfeleistungen im Sinne des EU-Rechts - wozu auch die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach deutschem Recht gehört - ein. Sie ist zugleich eine Leistung bei Arbeitslosigkeit im Sinne der Nummer 5(a) der vorgeschlagenen Ratsempfehlung. So kann eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer nach deutschem SGB-II-Recht ergänzend neben ihrem bzw. seinem Arbeitslohn Arbeitslosengeld II erhalten.
Aufgrund des unbegrenzten Anwendungsbereichs müssen die Regelungen zur formellen (Nummern 8, 9 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung) und tatsächlichen Absicherung (Nummern 10, 11 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung) ebenfalls den Anspruch erheben, Sozialhilfeleistungen mit zu regeln. Das tun sie bisher aber nicht. So stellt die Definition des Begriffs "tatsächliche Absicherung" auf einen Anknüpfungspunkt ("Sachverhalt") ab, "bei dem die Einzelpersonen dieser Gruppe die Möglichkeit haben, Leistungsansprüche aufzubauen, und bei Eintreten des entsprechenden Risikos Leistungen in einer bestimmten Höhe in Anspruch nehmen können". Diese Definition passt für Sozialversicherungssysteme, aber nicht für Sozialhilfesysteme, da diese typischerweise ohne Vorleistungen erbracht und keine Anwartschaften "aufgebaut" werden.
Wenn eine Einbeziehung von Sozialhilfeleistungen in den Anwendungsbereich der Empfehlung nicht gewollt ist, sollte dies bereits in Nummer 2 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung unmissverständlich geregelt werden. Andernfalls sind die Nummern 7 fortfolgende der vorgeschlagenen Ratsempfehlung zu ergänzen und auch für Sozialhilfeleistungen passend auszugestalten.
- b) Die Gewährleistung einer tatsächlichen Absicherung im Sinne von Nummer 10(a) der vorgeschlagenen Ratsempfehlung - Beitrags- und Anspruchsregelungen sollen Leistungsaufbau und Bezug nicht beeinträchtigen - kann aufgrund der unterschiedlichen Sicherungssysteme in Deutschland weder beim Wechsel innerhalb der gesetzlichen Alterssicherung (zum Beispiel Berufsständische Versorgung - GRV) noch beim Wechsel zwischen privater und gesetzlicher Alterssicherung gewährleistet oder realisiert werden.
- c) Eine Sicherstellung, dass Ansprüche ungeachtet der Art des Beschäftigungs- bzw. Selbstständigenstatus und auch zwischen verpflichtenden und freiwilligen Systemen erhalten und übertragen werden können (Nummer 11 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung), ist in Deutschland aufgrund des Drei-Säulen-Modells nicht möglich. Auch innerhalb der gesetzlichen Alterssicherung kann dies nicht gewährleistet werden.
- d) Die Berücksichtigung des tatsächlichen Einkommens bei den Sozialschutzbeiträgen von Selbstständigen (Nummer 15 der vorgeschlagenen Ratsempfehlung) könnte die in Deutschland für Selbstständige bestehende Wahlmöglichkeit zwischen Regelbeitragszahlung und Beitragszahlung nach tatsächlichem Einkommen einschränken.