COM (2018) 173 final; Ratsdok. 7809/18
968. Sitzung des Bundesrates am 8. Juni 2018
A
Der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz (AV) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission sich des Problems unlauterer Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Lebensmittelversorgungskette in besonderer Weise annehmen will. Dies kann aufgrund der spezifischen Bedingungen dieses Sektors gerechtfertigt sein. Gleichwohl ist zu befürchten, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen weitgehend nicht geeignet sind, die vorgegebenen Ziele zu erreichen.
- 2. Die im Richtlinienvorschlag vorgeschlagenen Maßnahmen bedeuten einen Eingriff in die Vertragsfreiheit, der nur dann erfolgen darf, wenn er unbedingt erforderlich ist.
- 3. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Bewertung der Unlauterkeit einzelner Handelspraktiken im Wege starrer Verbotsnormen unflexibel ist und eine Überregulierung bedeuten kann. Um den vielfältigen geschäftlichen Konstellationen ausreichend Rechnung zu tragen, sollte die Bewertung stattdessen mittels flexibler Regelungen im Wege der Einzelfallprüfung erfolgen.
- 4. Der Bundesrat begrüßt den Vorschlag der Kommission, in einem EU-weiten Rahmen unlautere Handelspraktiken bezüglich Zahlungsfristen und kurzfristiger Stornierungen von Lieferverträgen für verderbliche Lebensmittel und einseitiger und rückwirkender Änderungen von bestimmten Vertragsbestimmungen sowie der Übernahme der Kosten für Warenverluste und -verschwendung zu verbieten. Der Vorschlag beschränkt sich aufgrund der damit gewollten weiteren Gestaltung und Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik auf landwirtschaftliche Produkte und alle gehandelten Lebensmittelerzeugnisse. Die stärkere Marktorientierung setzt ein verantwortungsvolles Handeln aller Marktbeteiligten in der Lebensmittelversorgungskette voraus.
- 5. Der Bundesrat sieht in dem Vorschlag einen wichtigen Beitrag zu einer grundsätzlichen Verbesserung der Stellung der Landwirtschaft in der Wertschöpfungskette.
- 6. Der Bundesrat stimmt der Kommission zu, dass sich kleinere Akteure und besonders landwirtschaftliche Erzeuger aufgrund ihrer schwächeren Verhandlungsposition und fehlender Alternativen häufig unlauteren Handelspraktiken ausgesetzt sehen.
- 7. Der Bundesrat hält die nun gestartete und EU-weite Thematisierung unlauterer Handelspraktiken für eine gute Grundlage, um ein größeres Bewusstsein für die Notwendigkeit freiwilliger Initiativen der Wirtschaft wie die "Supply Chain Initiative" (SCI) und so einen wirklichen Kulturwandel für faire Handelsbeziehungen zu schaffen, was aufgrund der hohen Konzentration auf den nachgelagerten Stufen der Primärproduktion nicht nur die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) betrifft.
- 8. Auch wenn Deutschland mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen bereits weitgehende nationale Verbote schädlicher Verhaltensweisen von Unternehmen mit relativer, überlegener oder beherrschender Marktmacht wie das Anzapfverbot ermöglicht hat, sieht der Bundesrat in den Vorschlägen der Kommission die Möglichkeit, im Lebensmittelbereich einen EU-weit einheitlichen Mindestschutzstandard aufzubauen und so die Handelsbeziehungen EU-weit zu verbessern.
- 9. Der Bundesrat sieht vor allem in dem Verbot von Zahlungsfristen von mehr als 30 Tagen (Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a des Richtlinienvorschlags) als lex specialis einen wesentlichen Beitrag, Lieferanten von verderblichen Lebensmittelerzeugnissen besser vor unlauteren Praktiken zu schützen.
- 10. Der Bundesrat unterstreicht, dass sowohl die Möglichkeit zu vertraulichen Beschwerden von Lieferanten bei den Durchsetzungsbehörden (Artikel 5 des Richtlinienvorschlags) als auch die vorgesehenen Befugnisse der Durchsetzungsbehörden (Artikel 6 des Richtlinienvorschlags), insbesondere zur Einleitung und Durchführung von Untersuchungen auf eigene Initiative oder Beschwerde, wirksame Beiträge zum Schutz der unterlegenen Lieferanten leisten können.
- 11. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission nicht uneingeschränkt, wonach größere Marktteilnehmer weniger von unlauteren Handelspraktiken betroffen sein dürften. Er weist daraufhin, dass sich auch landwirtschaftliche Erzeuger, Erzeugerorganisationen und Vereinigungen von Erzeugerorganisationen oberhalb der KMU-Schwellenwerte vielfach in einer vergleichbaren unterlegenen Verhandlungsposition befinden können. Dies trifft zum Beispiel für eine Vielzahl an Privat- und Genossenschaftsunternehmen der Milchverarbeitung zu.
- 12. Der Bundesrat ist weiter der Auffassung, dass eine Anknüpfung an KMU als geschützte Unternehmen gegenüber Nicht-KMU als Normadressaten nicht geeignet ist, einen angemessenen Schutz vor unlauteren Handelspraktiken zu erzielen. Es besteht sowohl die Gefahr eines nicht ausreichenden Schutzes auf der einen als auch die Gefahr eines überschießenden Eingriffs in die Vertragsfreiheit der Unternehmen auf der anderen Seite.
- 13. Deshalb wird vorgeschlagen, den Anwendungsbereich der Richtlinie auch auf Lieferanten zu erstrecken, bei denen es sich nicht um KMU handelt. Auch solche Unternehmen können sich einem Verhandlungsungleichgewicht ausgesetzt sehen. Zudem bestünde andernfalls die Gefahr, dass kleine und mittlere Lieferanten zunehmend vom Handel ausgeschlossen werden, wenn bestimmte Restriktionen nur für den Handel mit ihnen, aber nicht für den Handel mit großen Lieferanten gelten. Auf der anderen Seite findet eine Überregulierung statt, wenn KMU gegenüber nur unwesentlich größeren Unternehmen, die aber nicht mehr unter die KMU-Definition fallen, geschützt werden, auch wenn sich die Verhandlungspositionen der Marktpartner nicht wesentlich unterscheiden. Der Bundesrat schlägt daher anstelle der Anknüpfung an das Merkmal KMU eine Anknüpfung an die Marktverhältnisse, insbesondere die Marktmacht, vor.
- 14. Daher sollte der Anwendungsbereich des Vorschlags auch auf Lieferanten oberhalb der KMU-Schwellenwerte hinaus ausgedehnt werden und anstelle der Anknüpfung an das Merkmal KMU eine Anknüpfung an die Marktverhältnisse, insbesondere die Marktmacht, vorgenommen werden.
- 15. Sofern dies auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar sein sollte, bittet der Bundesrat die Bundesregierung, eine entsprechende Ausdehnung auf nationaler Ebene zu prüfen.
- 16. Das Tatbestandsmerkmal "verderbliche Lebensmittel" (Artikel 2 Buchstabe e des Richtlinienvorschlags) ist nicht ausreichend bestimmt. Je nach Verarbeitung und Konservierung verderben Lebensmittel nach kurzer oder längerer Zeit. Hier bedarf es aus Sicht des Bundesrates einer Konkretisierung.
- 17. Der Tatbestand "Verschwendung von Lebensmittelerzeugnissen, die in den Räumlichkeiten des Käufers auftritt" (Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d des Richtlinienvorschlags) enthält den unbestimmten und wertenden Begriff der "Verschwendung". Der Bundesrat ist der Ansicht, dass im Zusammenhang mit Regelungen, die sich auf Handlungen von Marktteilnehmern beziehen, konkreter bestimmte Formulierungen erforderlich sind.
- 18. Die Rechtfertigung von womöglich unlauteren Handelspraktiken soll gemäß Artikel 3 Absatz 2 des Richtlinienvorschlags bereits gegeben sein, wenn eine klare und eindeutige vertragliche Vereinbarung zwischen Lieferant/Verkäufer und Käufer erfolgt ist. Der Bundesrat hält dies für unzureichend, da bei Abhängigkeit des Lieferanten/Verkäufers die Bedingungen vom Käufer aufgezwungen sein könnten. Der Bundesrat hält eine Regelung für sachgerecht, nach der im Einzelfall geprüft wird, ob eine Handelspraktik unlauter ist oder ob ein sachlich gerechtfertigter Grund vorliegt.
- 19. Der Bundesrat bezweifelt, dass Zahlungen für die Lagerung, die Platzierung oder die Listung von Lebensmittelerzeugnissen des Lieferanten uneingeschränkt Effizienzvorteile für beide Vertragspartner im Sinne einer Winwin-Situation mit sich bringen und daher vollständig der Vertragsfreiheit der Parteien unterliegen sollten (Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe b des Richtlinienvorschlags). Gerade bei einem Marktungleichgewicht besteht die Gefahr, dass der überlegene Käufer diese Zahlungen in den Lieferverträgen einseitig durchsetzen kann. Der Bundesrat hält es daher nicht für zielführend, den Schutz der schwächeren Partei zur Disposition der Vertragspartner zu stellen. Stattdessen sollte darauf abgestellt werden, ob es im Einzelfall einen sachlich gerechtfertigten Grund für die Vertragsklausel gibt.
- 20. Die Beschwerdemöglichkeit ausschließlich für Erzeugerorganisationen und Vereinigungen von Erzeugerorganisationen (Artikel 5 Absatz 2 des Richtlinienvorschlags) ist nach Auffassung des Bundesrates nicht nachvollziehbar. Auch allen Organisationen und Vereinigungen von Lieferanten oder Verkäufern sollte diese Beschwerdemöglichkeit zustehen. Absatz 2 wäre entsprechend anzupassen.
- 21. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, seiner Auffassung in den weiteren Verhandlungen auf EU-Ebene Rechnung zu tragen.
- 22. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
B
- 23. Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Rechtsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.