Der Bundesrat hat in seiner 824. Sitzung am 7. Juli 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das bereits im Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zum Ausdruck gebrachte Ziel der Kommission, den besonderen Bedürfnissen der Sozialdienstleistungen Rechnung zu tragen und insofern auf mehr Rechtsklarheit hinsichtlich der Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts hinzuwirken. Er verweist auf seine diesbezügliche Stellungnahme vom 24. September 2004 zum Weißbuch (BR-Drucksache 466/04(B) ).
- 2. Der Bundesrat bedauert, dass die Kommission abweichend von ihrer Ankündigung im Weißbuch keine Mitteilung zu den Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen von allgemeinem Interesse vorgelegt hat, sondern sich nur zu Sozialdienstleistungen äußert. Da es sich um konzeptionell und praktisch eng miteinander verbundene Bereiche des Sozialschutzes handelt, hält er eine unterschiedliche Betrachtung nicht für zweckmäßig.
- 3. Der Bundesrat betont erneut, dass für eine Überprüfung der nicht wirtschaftlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse auf europäischer Ebene grundsätzlich weder eine Gemeinschaftskompetenz noch ein Bedürfnis für ein Tätigwerden der Gemeinschaft besteht. Bei Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse sollte sich die Gemeinschaft auf Bereiche beschränken, die auf Grund ihrer Größe und strukturellen Vernetzung eine gemeinschaftsweite Bedeutung haben.
Selbst wenn sich allgemeine Aspekte einer Modernisierung bei allen beziehungsweise einigen Mitgliedstaaten feststellen lassen, lässt sich nach Auffassung des Bundesrates auf Grund der sehr unterschiedlichen Organisation der sozialen Dienstleistungen in den einzelnen Mitgliedstaaten daraus keine Möglichkeit zur Vereinheitlichung ableiten. Dazu hat die EU auch keine Kompetenz.
- 4. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Gesundheitsdienstleistungen von der Mitteilung nicht erfasst werden, die Systeme der sozialen Sicherheit und damit auch die gesetzliche Krankenversicherung aber gleichwohl einbezogen sind. Er stellt fest, dass in der Mitteilung zwar die Sozialdienstleistungen in die beiden großen Gruppen "Systeme der sozialen Sicherung" sowie "persönliche Dienstleistungen" (vgl. Abschnitt I. Nr. 1.1 der Vorlage) unterteilt sind, aber danach keine getrennte Betrachtung folgt, sondern nur von Sozialdienstleistungen die Rede ist. Er vermisst eine Klarstellung dahin gehend, dass die Kommission die auch vom EuGH anerkannte Sonderstellung der Systeme der sozialen Sicherheit anerkennt.
- 5. Nach Auffassung des Bundesrates ist es zu undifferenziert, wenn die Kommission Sozialdienstleistungen vor dem Hintergrund des großen Wirtschaftsund Beschäftigungspotentials vorwiegend in einen wirtschaftlichen Zusammenhang stellt und für den Bereich der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit die Schlussfolgerung zieht, dass sämtliche Sozialdienstleistungen als wirtschaftliche Tätigkeit verstanden werden und damit unter die Regelungen des EGV fallen. Auch im Bereich des Wettbewerbsrechts wären demnach praktisch alle Sozialdienstleistungen von den gemeinschaftsrechtlichen Regelungen erfasst.
Damit wird den Besonderheiten sozialer Dienstleistungen aber nicht ausreichend Rechnung getragen. Bei zahlreichen Sozialdienstleistungen handelt es sich um Hilfen, die auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips von Trägern der Freien Wohlfahrtspflege geleistet werden, wofür diese öffentliche Zuschüsse erhalten. Der Bundesrat hält es für notwendig zu verdeutlichen, warum Sozialdienstleistungen üblicherweise in stark regulierten Systemen erbracht werden. Dort, wo dem Staat eine Gewährleistungspflicht für die Versorgung mit einer Leistung obliegt, stoßen Marktmechanismen an ihre Grenzen. Marktmechanismen können in der Regel für mehr Wettbewerb, Innovation und Transparenz sorgen, stellen jedoch keine Garantie für eine bedarfsgerechte Versorgung sowie zur Sicherstellung von Nachhaltigkeit, Qualität und Effizienz dar.
- 6. Der Bundesrat stellt fest, dass eine Maßnahme nur gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen kann, wenn sie den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann und den Wettbewerb innerhalb des gemeinsamen Marktes behindert einschränkt oder verfälscht. Bei Leistungen, die lokal und wohnortnah angeboten und nachgefragt werden, wird sich daher ein gemeinschaftsrechtliches Problem in der Regel nicht ergeben. Soweit Leistungen dennoch wettbewerbsrechtlich relevant sind und sie in den Anwendungsbereich der Beihilferegeln fallen, fordert der Bundesrat, dass Tätigkeiten, die einem gesetzlich definierten Auftrag entsprechen, überwiegend aus öffentlichen Mitteln oder Abgaben finanziert werden, und die nicht mit Gewinnerzielungsabsicht vorgenommen werden, mit Blick auf die sozialpolitische Gestaltungshoheit der Mitgliedstaaten wettbewerbs- und beihilferechtlich deutlich privilegiert sein sollten. Entsprechende Rechtssicherheit sollte außer für staatliche und kommunale Stellen unabhängig von der Rechtsform auch für Einrichtungen gelten, für die der Staat eine organisatorische Letztverantwortung trägt und die ohne Gewinnerzielungsabsicht tätig werden.
- 7. Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass es nach der EuGH-Rechtsprechung in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt, die Aufgaben von allgemeinem Interesse zu definieren. Der Bundesrat würde es daher begrüßen, wenn die Kommission auch klarstellen würde, dass die aus ihrer Sicht genannten Merkmale für soziale Dienstleistungen lediglich Anhaltspunkte sind, die für die Mitgliedstaaten keinerlei Bindungswirkung entfalten. Da im Übrigen die Auflistung der gemeinsamen Merkmale von Sozialdienstleistungen wenig aussagekräftige Kriterien enthält, bezweifelt der Bundesrat, ob eine europaeinheitliche Begriffsbestimmung angesichts der Vielfalt von Sozialdienstleistungen in den einzelnen Mitgliedstaaten überhaupt gelingen kann.
Der Bundesrat weist darüber hinaus darauf hin, dass Leistungen der Rehabilitation und der Pflege - anders als von der Kommission ausgeführt - Gesundheitsdienstleistungen sind. Nach dem Urteil des BVerfG zum Altenpflegegesetz des Bundes sind der Beruf des Altenpflegers ebenso wie der Beruf des Gesundheits- und Krankenpflegers ein "anderer Heilberuf" im Sinne des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 19 GG und damit den Gesundheitsberufen und den Gesundheitsdienstleistungen zuzuordnen.
- 8. Die in der Mitteilung dargestellten Überlegungen zur Einfügung der Berichte über die Situation der Sozialdienstleistungen in den Rahmen der anderen Gemeinschaftsinitiativen zur Modernisierung der Sozialdienstleistungen, insbesondere der Offenen Methode der Koordinierung im Bereich Sozialschutz und der sozialen Eingliederung, sind aus Sicht des Bundesrates nicht nachvollziehbar.
Insbesondere besteht die Gefahr einer erheblichen Ausweitung der Berichtspflichten und einer Verwässerung des eben erst eingeführten Streamlinings.
Ein neuer offener Koordinierungsprozess wird abgelehnt.
- 9. Der Bundesrat hält einen weiteren Konsultationsprozess nur dann für nützlich, wenn er nicht von der Grundannahme geprägt ist, dass praktisch alle Dienstleistungen im sozialen Bereich als wirtschaftliche Tätigkeit betrachtet werden, sondern ergebnisoffen geführt wird und er einen Beitrag zur Klarstellung in diesem Bereich leistet.