Der Bundesrat hat in seiner 850. Sitzung am 7. November 2008 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass die Integration von Menschen und insbesondere Jugendlichen und Kindern mit Migrationshintergrund eine der großen politischen Herausforderungen ist. Er begrüßt daher die Initiative der Kommission, die Verbesserung der Bildungssituation von Kindern aus Zuwandererfamilien zu thematisieren und mit den Mitgliedstaaten in einen konstruktiven Dialog einzutreten.
- 2. Er stimmt der Kommission zu, dass Bildung eine der wichtigsten Ressourcen für eine gelingende Integration ist. Der Bundesrat weist darauf hin, das sich die Bundesregierung, die Länder, die Wirtschaft, Migrantenverbände und andere politische Akteure in Deutschland des Problems der Integration intensiv angenommen und 2007 auf einen umfassenden Integrationsplan geeinigt haben, der auch zahlreiche Maßnahmen im Bildungsbereich enthält. Darüber hinaus weist der Bundesrat auf die gemeinsame Erklärung der Kultusministerkonferenz und der Organisation von Menschen mit Migrationshintergrund "Integration als Chance - gemeinsam für mehr Chancengerechtigkeit" vom 13. Dezember 2007 als auch auf die Umsetzung zahlreicher Maßnahmenpakete in den einzelnen Ländern hin.
- 3. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass es sich bei der Integration der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte, die sich in einer schwierigen sozioökonomischen Lage befinden, um eine Herausforderung handelt, deren Bedeutung in den letzten Jahren gestiegen ist. Allerdings wird die Ursache weniger in den steigenden Zahlen, sondern in den schwierigen Bildungsvoraussetzungen gesehen, die diese Kinder mitbringen.
- 4. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission die Migration in der EG nicht als ausschließliche Belastung der Mitgliedstaaten sieht, sondern auch als Chance begreift. Der Bundesrat sieht in dieser Migration generell eine Verstärkung nicht nur der kulturellen, sondern auch der sprachlichen Vielfalt in der EU, die durch entsprechende Validierung der vorhandenen Sprachkenntnisse in einen Standortvorteil für Europa umgemünzt werden kann.
- 5. Der Bundesrat sieht in der Verhinderung eines schulischen Scheiterns einen wichtigen Beitrag zur sozialen Integration. Die Bildungssysteme müssen sich auf eine wachsende sprachliche, kulturelle und leistungsmäßige Vielfalt einstellen. Zu wenig wird bisher das Fremde als Ressource und Bereicherung wahrgenommen. Es bedarf noch erheblicher Anstrengungen, die interkulturelle Kompetenzvermittlung in den Bildungssystemen der Mitgliedstaaten zu verbessern. Hiervon ist auch die Ausbildung des pädagogischen Personals betroffen.
- 6. Gleichwohl stimmt der Bundesrat der Kommission auch hinsichtlich der Feststellung zu, dass ein Scheitern der schulischen Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund der erste Schritt auf dem Weg zu Schulabbruch, Arbeitslosigkeit und mangelnder sozialer Integration sein kann. Der Bundesrat betont allerdings auch, dass die Schule allein die soziale Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund nicht ausgleichen kann. Wie die Kommission sieht der Bundesrat hier grundsätzliche Problemlösungsansätze in Kooperation mit einer Vielzahl von Akteuren im Bildungs-, Jugend- und Familienbereich und verweist auf die bereits unter Ziffer 2 genannten Maßnahmen, die in Deutschland ergriffen wurden.
- 7. Der im Grünbuch behauptete Zusammenhang zwischen gegliedertem Schulsystem und schlechten Leistungen der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte ist aus Sicht des Bundesrates empirisch nicht haltbar. In der EU-Gesamtsicht schneiden auch Mitgliedstaaten mit komplett integriertem Schulsystem schlecht bei den Leistungen der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte ab. Ein entscheidender Faktor ist aus Sicht des Bundesrates die Durchlässigkeit des Systems und nicht die Struktur.
- 8. Der Bundesrat unterstreicht die Feststellung der Kommission, dass die EU-Bildungskooperation im Rahmen der Bestimmungen von Artikeln 149 und 150 EGV erfolgt und subsidiären Gesichtspunkten entsprechen muss. Er begrüßt daher, dass die Kommission im Grünbuch die Bildungspolitik als fest in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verankert bezeichnet, und stellt in diesem Zusammenhang im Hinblick auf die Formulierung des Titels des Grünbuchs heraus, dass Chancen und Herausforderungen vor allem auf der Ebene der Bildungssysteme der Mitgliedstaaten bestehen und dass auf Grund der vertraglichen Bestimmungen nicht von EU-Bildungssystemen, sondern allenfalls von Bildungssystemen in der EU gesprochen werden kann, da die politische Gestaltung der Bildungssysteme auf nationaler und ggf. auf regionaler und lokaler Ebene erfolgt.
- 9. Der Bundesrat stellt aber fest, dass sich das Grünbuch dennoch mit Themenbereichen (z.B. Schulorganisation, Einordnung nach Leistungsgruppen) befasst, die in die alleinigen Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten fallen. Der Bundesrat fordert erneut die in Artikel 149 und 150 EGV verankerte Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Inhalte und Organisation der Bildungssysteme (vgl. BR-Drucksache 522/07(B) ). Er weist darauf hin, dass die deutschen Länder für die im Grünbuch skizzierten Aufgaben der vorschulischen und schulischen Bildung zuständig sind.
- 10. Die im Grünbuch gewählte Definition des Begriffs "Migrationshintergrund" ist aus Sicht des Bundesrates nicht zielführend, weil die genannten Benachteiligungen in zahlreichen Fällen insbesondere Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund betreffen, die in Deutschland geboren wurden (zweite Generation, deutsche Staatsangehörige). Die Frage lediglich des Geburtslandes per se korreliert noch nicht vollständig mit den Effekten schulischer Benachteiligungen. Der Bundesrat erachtet es als notwendig, dass der Begriff "Menschen mit Zuwanderungsgeschichte" (synonym für "Menschen mit Migrationshintergrund") in Anlehnung an die internationale Pisa-Definition alle Personen umfasst, die selber zugewandert sind oder bei denen mindestens ein Elternteil zugewandert ist. Hierzu gehören auch Aussiedlerinnen und Aussiedler sowie die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats angenommen haben. Der Bundesrat hält deshalb eine Änderung der Definition im Grünbuch für erforderlich, die sich an die international gängige PISA-Definition anlehnt, besser noch neben der Staatsangehörigkeit folgende Merkmale enthält:
- - Verkehrssprache in der Familie,
- - Herkunftsland,
- - Jahr des Zuzuges in den Mitgliedstaat.
- 11. Der Bundesrat begrüßt die thematische Festlegung des Grünbuchs auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund bei gleichzeitiger sozioökonomischer Benachteiligung, weil in diesem Bereich der größte Handlungsbedarf besteht. Das Grünbuch setzt sich dabei vor allem mit Problemen und Maßnahmen in Ballungsräumen auseinander. Gleichwohl weist der Bundesrat vorsorglich darauf hin, dass künftig auch Unterstützungsmaßnahmen in ländlichen Regionen erforderlich sind, um auch dort Organisationsformen und Fördermöglichkeiten zu entwickeln, die geeignet sind, eine adressatengerechte Förderung in der Fläche zu realisieren.
- 12. Der Bundesrat regt an, im Rahmen des Grünbuchprozesses einen breiteren Bildungsbegriff zugrunde zu legen: Bildung als ein umfassender Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt. Die Bildungsprozesse von jungen Menschen finden nicht nur in der Schule, sondern an vielen Orten statt. Sie sind zudem nicht an die Grenzen institutioneller Zuständigkeit gebunden. Neben den formalisierten Prozessen gilt es, den nonformalen und informellen Bildungsprozessen größere Aufmerksamkeit zu widmen. Zur Bildung gehören neben der schulischen und vorschulischen Bildung die frühkindlichen Bildungsprozesse (null bis drei Jahre) und die außerschulische Bildung. Institutionell sind Einrichtungen wie Familienbildungsstätten, Bibliotheken, Sporteinrichtungen sowie das gesamte Spektrum der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere die verbandliche, offene und kulturelle, sowie die Jugendsozialarbeit einzubeziehen. Gerade die außerschulische Bildung ist von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit der jungen Menschen, die Förderung von sozialen Kompetenzen, die Befähigung zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft und den Zugang zum Arbeitsmarkt.
- 13. Der Bundesrat regt an, die Bedeutung der frühen Förderung stärker zu betonen, weil die Länder dieser eine hohe Bedeutung beimessen. Die Bildungsarbeit in Einrichtungen zur frühkindlichen Erziehung sowie der Unterricht während der ersten vier Schuljahre sind entscheidend für den schulischen Erfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, weil während dieses Zeitraums eine Prägung für die gesamte weitere Bildungsbiographie erfolgt.
- 14. Wegen der veränderten Realitäten hinsichtlich der Zuwanderergruppen und der Zahl der Mitgliedstaaten sieht der Bundesrat für die Richtlinie 77/486/EWG keine Notwendigkeit mehr. Die Richtlinie umfasst Regelungen, die gemäß den Artikeln 149, 150 EGV in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten fallen. Die Verantwortung für die Lehrinhalte und die Gestaltung der Bildungssysteme tragen die Mitgliedstaaten.
- 15. Der Bundesrat nimmt die Feststellung der Kommission zur Kenntnis, dass sich der Anwendungsbereich der Richtlinie 77/486/EWG über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern auf EU-Bürger beschränkt und die Umsetzung der Richtlinie bisher lediglich bruchstückhaft erfolgt sei. Er stellt fest, dass auch die Kommission im Grünbuch erhebliche Zweifel hinsichtlich der Beibehaltung der Richtlinie ausdrückt.
Der Bundesrat empfiehlt vor diesem Hintergrund die Aufhebung der Richtlinie 77/486/EWG über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern.
- 16. Der Bundesrat verweist auf die Zuständigkeit der Länder bzw. der Mitgliedstaaten in der Bildungspolitik. Im Rahmen der vertraglichen Kompetenzen und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips sieht er seitens der EU folgende Unterstützungsmöglichkeiten als hilfreich an:
- - Die EU könnte dazu beitragen, dass sich die Mitgliedstaaten über Fragen von Migration und Bildung austauschen und voneinander lernen. Dabei sollten die Mitgliedstaaten zusammengefasst werden, die vergleichbare ökonomische und soziale Daten und eine - in der Höhe und der ethnischen und sozialen Zusammensetzung - vergleichbare Zuwanderung haben.
- - Der Bundesrat regt insbesondere einen vertieften Informations- und Erfahrungsaustausch auf europäischer Ebene zu den Themen Schulverweigerung durch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie zur Berufsberatung, berufsbezogenen Sprachförderung und beruflichen Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an.
- - Im Hinblick auf die Feststellung der Kommission, dass die Offene Methode der Koordinierung ein Forum für die Kooperation und den Austausch über gemeinsame Herausforderungen bietet, unterstreicht der Bundesrat seine Position, dass er in diesem Bereich vor allem auf Erfahrungsaustausch bzw. Peer-Learning-Maßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten setzt, um geeignete politische Antworten zu finden. In diesem Zusammenhang regt der Bundesrat an, dass nach Diskussion in den einschlägigen Gremien auf europäischer Ebene sowie der Identifizierung bewährter Verfahren, ggf. unter Beteiligung der Peer-Learning-Gruppe "Bildungszugang und soziale Integration", die Kommission eine Zusammenstellung der im Rahmen der Diskussion als bewährte Verfahren identifizierten Ansätze veröffentlicht, damit diese ggf. von den zuständigen nationalen, regionalen und lokalen Verantwortungsträgern weiterentwickelt werden können.
- - Der Bundesrat hält es für erforderlich, die Förderlinien der gemeinschaftlichen Programme, wie beispielsweise des Aktionsprogramms "Lebenslanges Lernen (2007 bis 2013)", und anderer Programme oder der Europäischen Strukturfonds hinsichtlich der Förderfähigkeit von Maßnahmen zur Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und zur Förderung des interkulturellen Dialogs zu überprüfen und ggf. anzupassen.
- - Der Europäische Fonds für die Integration von Drittstaatsangehörigen sollte im Rahmen der derzeitigen Finanzausstattung zukünftig alle Zugewanderten (nicht nur Drittstaatsangehörige) berücksichtigen. Bei konkreten Integrationsprojekten und -maßnahmen vor Ort ist eine Trennung zwischen Zugewanderten aus Drittstaaten und Zugewanderten aus Mitgliedstaaten weder sinnvoll noch praktikabel.
- - Durch die Nutzung des Programms "Jugend in Aktion 2007 - 2013" sowie mit Hilfe europäischer Programme sollten Projektziele zur gezielten außerschulischen Bildungsarbeit, insbesondere der Förderung der Ausbildungsreife von jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, formuliert und finanziell unterstützt werden.
- - Im Hinblick auf die etwaige Einführung von Indikatoren oder Benchmarks zu Bildungsleistungen und dem Schulbesuch von Migrantenkindern bekräftigt der Bundesrat den Beschluss des Rates vom Mai 2007 zu einem kohärenten Rahmen für Indikatoren und Benchmarks zur Beobachtung der Fortschritte im Hinblick auf die Lissabonner Ziele im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung. Eine Einführung weiterer Indikatoren und Benchmarks wurde demnach vom Rat jedoch mittelfristig aus grundsätzlichen Erwägungen aber auch wegen des mit der Erarbeitung neuer Indikatoren verbundenen administrativen und finanziellen Aufwands als nicht zielführend angesehen. Darüber hinaus weist der Bundesrat darauf hin, dass die Bildungssituation von Kindern mit Migrationshintergrund bereits national durch die IQB-Ländervergleiche, länderübergreifende Lernstandserhebungen und international durch die Beteiligung der Mitgliedstaaten an PISA, PIRLS und TIMSS systematisch erfasst wird. Diese Daten werden neben den jeweiligen Berichten auch im Nationalen Bildungsbericht durch entsprechende Indikatoren ausführlich ausgewertet. Neue Indikatoren und Benchmarks auf EU-Ebene zur Darstellung des Problems und der Fortschritte zur Bewältigung sind aus Sicht des Bundesrates daher nicht erforderlich.
- 17. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung darauf hinzuwirken, dass die Kommission im Anschluss an die Konsultation eine umfassende schriftliche Auswertung der verschiedenen vorgetragenen Lösungsansätze vornimmt und diese dem Rat zur Diskussion vorlegt.