Der Bundesrat hat in seiner 800. Sitzung am 11. Juni 2004 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat stellt fest, dass die Kommission außer der Mitteilung zur Modernisierung des Sozialschutzes für die Entwicklung einer hochwertigen Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege zeitgleich die Mitteilung zur Reaktion auf den Reflexionsprozess auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung in der EU (BR-Drucksache 336/04 (PDF) ) vorgelegt hat. Eine Mitteilung über elektronische Gesundheitsdienste ist verabschiedet. Diese Mitteilungen und die darin zum Ausdruck kommenden Zielvorstellungen der Kommission stehen in einem engen sachlichen Zusammenhang miteinander und müssen daher im weiteren Verlauf so behandelt werden.
Die Mitteilung über die Modernisierung des Sozialschutzes befasst sich primär mit der Koordination und Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zur Weiterentwicklung der Gesundheitssysteme als solche im Rahmen des so genannten Lissabon-Prozesses. Demgegenüber geht es in der Mitteilung zur Mobilität von Patienten (BR-Drucksache 336/04 (PDF) ) um die Zusammenarbeit der Gesundheitsversorgungssysteme untereinander zur Erleichterung der Freizügigkeit der Patienten und der Bürger. Die Mitteilung zu elektronischen Gesundheitsdiensten befasst sich mit den Informationserfordernissen und Möglichkeiten der elektronischen Informationsdienste im Bereich des Gesundheitswesens.
Während die Kommission bei der Zusammenarbeit zur Verbesserung der Patientenmobilität von einer Steuerung des Prozesses im Rahmen von Artikel 152 Abs. 2 EGV ausgeht, will sie nunmehr für den Prozess der Modernisierung des Sozialschutzes im Bereich der Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege uneingeschränkt die offene Methode der Koordinierung einsetzen.
- 2. Der Bundesrat hat wiederholt festgestellt, dass die in der Mitteilung behandelten Fragen gemeinsame Herausforderungen für alle EU-Mitgliedstaaten seien (vgl. BR-Drucksache 053/02(Beschluss) vom 1. März 2002, BR-Drucksache 077/03(Beschluss) vom 14. März 2003 und BR-Drucksache 928/03(Beschluss) vom 12. März 2004). Der Bundesrat hat dabei die allgemeine Situationsbeschreibung wie auch die von der Kommission ins Auge gefassten grundsätzlichen Zielvorstellungen grundsätzlich anerkannt.
Der Bundesrat hat dabei festgestellt, dass im Bereich Gesundheit und Pflege ein Erfahrungsaustausch und eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten einschließlich der Länder und Regionen untereinander einen wichtigen Beitrag leisten können. Hierzu gehört auch die verstärkte grenzüberschreitende Koordination im Sinne des Informations- und Erfahrungsaustauschs über relevante, die Gesundheitssysteme aller Mitgliedstaaten berührende übergeordnete Fragen, insbesondere im Bereich der Gesundheitsinformation und der Qualitätssicherung.
Darüber hinausgehende Steuerung durch Indikatoren, Zielvorgaben und Leitlinien hat der Bundesrat abgelehnt (vgl. BR-Drucksache 053/02(Beschluss) Ziffer 6 und zuletzt BR-Drucksache 928/03(Beschluss) Ziffer 22). Diese Stellungnahmen gelten weiterhin. Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei der weiteren Behandlung der Mitteilung diesen Standpunkt zu vertreten.
- 3. Die zutreffend beschriebenen grundsätzlichen und allgemeinen Zielsetzungen des Berichts sind im Allgemeinen vom Europäischen Rat bereits anerkannt worden. Soweit die Kommission allerdings (vgl. Nr. 4 der Mitteilung) davon ausgeht dass für die weiteren Schritte eine Einigung auf die in der Mitteilung aufgeführten spezifischen Ziele erfolgen sollte, kann dem so nicht gefolgt werden. Diese im Einzelnen sehr unterschiedlichen und detaillierten Zielbeschreibungen betreffen Themen und Fragestellungen, die in den Mitgliedstaaten je nach Versorgungssystem qualitativ, quantitativ und strukturell völlig verschieden ausgeprägt sind. Ihre Relevanz für die einzelnen Gesundheitssysteme ist im Einzelnen sehr unterschiedlich. Schon von daher ist eine rastermäßige Abfrage und Auswertung quer über alle Mitgliedstaaten hinweg problematisch.
Wie bereits in BR-Drucksache 053/02(Beschluss) , Ziffer 4 ausgeführt, ist bei einer Verwendung von Vergleichskriterien im Rahmen des Erfahrungsaustauschs darauf zu achten, dass diese aussagekräftig und systemneutral sind und die Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten für ihre Versorgungssysteme nicht einengen. Zuzustimmen wäre der Kommission allerdings insoweit, als solche Vergleichskriterien primär aus der Arbeit im Rahmen des Aktionsprogramms öffentliche Gesundheit heraus zu entwickeln wären. Keinesfalls kann akzeptiert werden, dass der Diskussion auf der europäischen Ebene Vergleichsmaßstäbe und Indikatoren für den Erfahrungsaustausch und die weitere Koordination der Sozialschutzsysteme zu Grunde gelegt werden, die außerhalb oder ohne maßgebliche Mitwirkung des Gesundheitsbereichs entwickelt und festgelegt wurden.
- 4. Unbeschadet der Ablehnung einer uneingeschränkten Anwendung der offenen Methode der Koordinierung im weiteren Prozess sind auch die einzelnen Zielvorstellungen und Empfehlungen in der Mitteilung der Kommission jedenfalls insoweit abzulehnen, als sie verbindliche Vorgaben für die künftige Gestaltung der Gesundheitssysteme enthalten und damit die alleinige Verantwortung der Mitgliedstaaten für künftige Reformen im Gesundheitswesen infrage stellen.
Zum Teil treffen die Empfehlungen auf das deutsche Gesundheitssystem nicht zu; teilweise sind sie bereits integraler Bestandteil und könnten insoweit als positives Beispiel in den Erfahrungsaustausch eingeführt werden.
Insgesamt reichen die Zielvorstellungen weit in die Versorgungs- und Finanzierungssysteme der Mitgliedstaaten hinein und entsprechen damit nicht der Ankündigung der Kommission, bei der Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege die offene Methode der Koordinierung nur in der leichtesten Form anzuwenden.
Vielmehr liegt in der Struktur der Vorschläge die Tendenz zu einer mit hohem Detaillierungsgrad betriebenen Koordinierung.
Angesichts der Unterschiedlichkeit der Gesundheitssysteme und ihrer Versorgungsstrukturen teilt der Bundesrat die Überlegungen der Kommission nicht, die weitere Entwicklung der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten durch die Festlegung gemeinsamer Ziele, die Festlegung von Indikatoren, durch Länderberichte und Bewerten der Analysen durch die Kommission voranzutreiben.
Vielmehr muss dieser Prozess des politischen Informations- und Erfahrungsaustauschs wesentlich vom Willen der Mitgliedstaaten getragen werden. Diese tragen auch jeweils national die ausschließliche Verantwortung. Diese nationalen Prozesse werden, wie sich am GKV-Modernisierungsgesetz zeigt, zusätzlich kompliziert wenn in ihnen noch politische Vorgaben aus dem Koordinierungsprozess zu bearbeiten wären.
- 5. Unklar ist auch, was die Kommission mit einem Gesundheitsüberwachungssystem in diesem Zusammenhang bezweckt. Es ist jedenfalls nicht Aufgabe der Gemeinschaft, die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten "zu überwachen".
- 6. Die Kommission stellt zutreffend fest, dass die in der Mitteilung angesprochenen Fragen vielfältige Implikationen mit anderen Politikbereichen aufweisen.
Die Mitteilung lässt allerdings völlig offen, wie die Rolle der hier jeweils beteiligten Gremien im Einzelnen ausgestaltet sein solle. Insbesondere der neu geschaffenen hochrangigen Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung als einem auf Artikel 152 Abs. 2 EGV gestützten Kommissionsgremium kann die hier angesprochene politische Koordinationsrolle nicht anvertraut werden. Angesichts der Bedeutung des Prozesses für die Gesundheits- und Sozialsysteme der Mitgliedstaaten ist eine klare und sachgerechte Gremienstruktur unverzichtbar. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung darauf hinzuwirken, dass die weitere Diskussion von einem Gremium vorbereitet wird in welchem die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten eigenständig repräsentiert ist und welches nicht in einer Abhängigkeit von der Kommission steht. Dabei ist für eine ausreichende Beteiligung der Länder Sorge zu tragen.
- 7. Beim weiteren Fortgang ist zu berücksichtigen, dass die in der Mitteilung der Kommission angesprochenen Fragen vielfältige und komplizierte Zusammenhänge mit den Bereichen Dienstleistungen im Binnenmarkt, Daseinsvorsorge und Patientenmobilität aufweisen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, in enger Abstimmung mit den Ländern für eine konsistente Position zu sorgen.