845. Sitzung des Bundesrates am 13. Juni 2008
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Kulturfragen (K) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat pflichtet der Auffassung der Kommission, dass eine verstärkte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Qualitätssicherung im Bereich der beruflichen Bildung einen Mehrwert darstellen könne, bei und verweist auf die hohe Qualität des dualen Systems sowie der schulischen Berufsausbildung in der Bundesrepublik Deutschland, die für die europäische Zusammenarbeit bedeutende Impulse bieten können.
- 2. Der Ansatz der Kommission, dass gegenseitiges Vertrauen und ausreichende Praxiserprobung für die erfolgreiche Anwendung von Instrumenten wie z.B. dem Europäischen Kreditpunktesystem (ECVET) eine wesentliche Rolle spielen, wird geteilt. Die Schaffung eines praktikablen europäischen Qualitätssicherungsinstruments für den Berufsbildungsbereich wird als komplementäre Maßnahme zu Instrumenten wie dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR), dem ECVET oder Europass insbesondere unter dem Aspekt des gegenseitigen Vertrauens für sinnvoll und konsequent angesehen. Daher wird eine Verständigung auf gemeinsame Qualitätssicherungssysteme grundsätzlich begrüßt. Daher haben die Länder der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren bereits entsprechende Qualitätssicherungsintrumente erarbeitet.
- 3. Wie die Kommission sieht der Bundesrat die Inhalte einer Empfehlung zur Qualitätssicherung in der beruflichen Bildung den bisherigen Ergebnissen der EU-Kooperation im Rahmen des Kopenhagen-Prozesses verpflichtet. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die durch die Annahme von Schlussfolgerungen des Rates zur Qualitätssicherung in der beruflichen Bildung getroffene Vereinbarung der Bildungsminister der Mitgliedstaaten vom 28. Mai 2004 sowie die Feststellung im "Gemeinsamen Zwischenbericht" des Jahres 2004, dass durch die Entwicklung gemeinsamer europäischer Bezugspunkte keine Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten geschaffen werden und deren etwaige Umsetzung auf freiwilliger Basis unter Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten und Zuständigkeiten erfolgen solle. Die Bildungsminister der Mitgliedstaaten haben diese Grundsätze im Rahmen der Helsinki-Konferenz zur Überprüfung der Prioritäten und Strategien des Kopenhagen-Prozesses im Dezember 2006 bekräftigt.
- 4. Vor diesem Hintergrund ist der Bundesrat der Auffassung, dass der vorliegende Empfehlungsvorschlag hinsichtlich der Einzelmaßnahmen weit über die auf ministerieller Ebene bisher getroffenen Vereinbarungen und die erwartbaren Inhalte einer Empfehlung hinausgeht.
- 5. Nach Artikel 149 und 150 EGV sind Maßnahmen, die zur Verwirklichung der dort gesetzten Ziele beitragen sollen, unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen.
- (bei Annahme entfällt Ziffer 6)
- 6. Nach Artikel 150 EGV muss die EU bei Maßnahmen, die zur Verwirklichung der dort gesetzten Ziele beitragen sollen, die Verantwortung der Mitgliedstaaten strikt beachten. Deshalb darf die EU im Bereich der beruflichen Bildung keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorgeben.
- 7. Der Bundesrat hätte daher die Vorlage eines aus einer überschaubaren Anzahl gemeinsamer Kriterien und Qualitätsprinzipien bestehenden Bezugsrahmens erwartet, der seine Bedeutung vor allem als Unterstützung der Empfehlungen zum EQR sowie zum ECVET entfaltet hätte und darüber hinaus dazu geeignet gewesen wäre, die Mitgliedstaaten zu einem verstärkten Austausch bewährter Verfahren anzuregen und Impulse für die Gestaltung einzelner Berufsbildungspolitiken auf mitgliedstaatlicher Ebene zu geben.
- 8. Die Kommission schlägt aber unter Herausstellung der Freiwilligkeit der Teilnahme an den vorgeschlagenen Maßnahmen sowie unter Betonung der vollen Berücksichtigung der alleinigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für den Berufsbildungsbereich eine so weit reichende Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten vor, dass damit aus Sicht des Bundesrates die Gemeinschaftskompetenzen durch ein an den Beschäftigungsteil des EGV angelehntes Verfahren erweitert würden.
- 9. [Während die jüngsten Empfehlungsvorschläge der Kommission zum EQR und zu ECVET lediglich Einzelaspekte der Systeme der beruflichen Bildung betreffen,] schreibt der vorliegende Vorschlag, insbesondere durch die Verknüpfung zu definierender mittel- und langfristiger Ziele für die Entwicklung der mitgliedstaatlichen Berufsbildungspolitik auf System- und Anbieterebene mit europäischen Zielen in Form eines Bezugsrahmens für die Qualitätssicherung in Verbindung mit dem Beschluss von mitgliedstaatlichen Leitlinien, Standards und Aktionsplänen für Veränderungen, eine umfängliche, mit der Frist 2010 gekoppelte Bindung der mitgliedstaatlichen Politikgestaltung an die europäische Ebene vor. Aus Sicht des Bundesrates läuft dieser Ansatz darauf hinaus, auf der Grundlage einer Rechenschaftspflicht der Mitgliedstaaten über die Umsetzung von Einzelmaßnahmen zu einer Kontrolle und letztlich Steuerung der mitgliedstaatlichen Berufsbildungssysteme durch die Kommission überzugehen.
- 11. Der Bundesrat bekräftigt in diesem Zusammenhang nachdrücklich seine grundsätzliche Ablehnung einer sich auf Empfehlungen stützenden Leitlinien- und Überwachungskompetenz der EU im Bildungsbereich (vgl. BR-Drucksache 714/05(B) ).
- 12. Der Bundesrat bedauert, dass die Kommission die in der Begründung ihres Vorschlags angeführte Basierung des Bezugsrahmens auf vorhandene Erfahrungen, vorbildliche Verfahren aus den Mitgliedstaaten und anderen beteiligten Ländern sowie auf wechselseitiges Lernen nicht näher ausgeführt hat. Unter Berücksichtigung der von der Kommission geforderten Frist 2010 kann der Bundesrat nicht erkennen, wie in einem so kurzen Zeitraum ein über die bisherigen Ergebnisse der EU-Kooperation hinausgehender Lernprozess zu relevanten Aspekten der Qualitätssicherung abgeschlossen werden kann.
- 13. Unter Beteiligung von Sozialpartnern und allen anderen relevanten Stakeholdern wird der Zeitplan als nicht realistisch eingeschätzt. In diesem Zusammenhang stellt der Bundesrat fest, dass die Kommission im vorliegenden Fall, anders als bei den Empfehlungsvorschlägen zu EQR und ECVET, ihren Vorschlag nicht auf eine Auswertung der Ergebnisse einer mehrmonatigen Konsultation der europäischen Öffentlichkeit gestützt hat.
- 14. Der Bundesrat lehnt eine in dreijährigen Abständen zu leistende Berichtlegung der Mitgliedstaaten über von ihnen verfolgte konkrete bildungspolitische Maßnahmen ab und verwahrt sich gegen die [unverhältnismäßige] bzw. {inflationäre} Ausweitung des Berichtswesens, die sich zunehmend zu einer Belastung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten entwickelt. Zudem weist er darauf hin, dass auch Empfehlung 2006/143/EG über die Qualitätssicherung in der Hochschulbildung keine Meldung von Ergebnissen einer nationalen Überprüfung vorsieht.
- 16. Zusätzliche Belastungen der zuständigen Behörden, der Organisationen der Wirtschaft und der Unternehmen sind zu vermeiden.
- 17. Unbeschadet seiner grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich einer auf europäischer Ebene durchzuführenden indikatorengestützten Überwachung von mitgliedstaatlichen Zielvorgaben weist der Bundesrat darauf hin, dass die Umsetzung der Empfehlung im Indikatorbereich vor dem Hintergrund einer Vielzahl von mit der innerstaatlichen Erhebung von Daten befassten Stellen durch unterschiedliche Abgrenzungen, teilweise Überschneidungen sowie unterschiedliche Erhebungszeiträume und -abstände mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet ist. Unter Berücksichtigung dieser Ausgangslage bezweifelt der Bundesrat, dass es, wie von der Kommission gefordert, bis zum Jahr 2010 möglich sein wird, in allen Mitgliedstaaten Konzepte sowie gesetzliche Grundlagen für die Erhebung der vorgeschlagenen Indikatoren zu schaffen. Aus Sicht des Bundesrates sind insoweit lediglich die Indikatoren 9 und 10 unproblematisch, da diesbezügliche Daten zum Teil vorliegen und eine Ausweitung der Erhebung mit einem vertretbaren Aufwand verbunden wäre. Der Bundesrat bezweifelt überdies, dass die von der Kommission vorgeschlagenen quantitativen Indikatoren dazu geeignet sind, Aussagen über die Qualität eines Berufsbildungssystems zu ermöglichen.
- 18. Im Hinblick auf die Indikatoren 1 bis 4 und 8 können aus Sicht des Bundesrates durch bereits bestehende Erhebungsmechanismen begrenzte Aussagen getroffen werden. Für eine genauere Erfassung wären die Erhebungskonzepte (z.B. bei Indikator 1 "anerkannte Berufsbildungsanbieter", bei Indikator 3 und 4 "individuelle Kriterien") jedoch zunächst zu konkretisieren und die gesetzlichen Grundlagen für einzelne Erhebungen anzupassen. In diesem Zusammenhang erscheint dem Bundesrat allerdings die in Verbindung mit Indikator 3 vorgeschlagene Erhebung einzelner so genannter "gesellschaftlicher Kriterien" wie Migrationshintergrund oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit aus datenschutzrechtlichen Erwägungen problematisch.
- 19. Hinsichtlich Indikator 7 müsste zunächst die intendierte Zielsetzung ("individuelle Kriterien") geklärt werden, bevor eine Einschätzung in Bezug auf die innerstaatliche Umsetzung erfolgen kann; insofern ersucht der Bundesrat die Bundesregierung, die Kommission um eine detaillierte Darstellung ihrer Vorstellungen zu bitten.
- 20. Im Hinblick auf die Durchführbarkeit der Indikatoren 5 und 6 hegt der Bundesrat erhebliche Zweifel, da zur vollumfänglichen Erhebung dieser Daten eine repräsentative Längsschnittuntersuchung erforderlich wäre, deren Aufwand kaum abschätzbar ist. Diese Untersuchung dürfte zudem auf die Befragung einzelner Personen abzielen und damit weit über die im Rahmen der Europäischen Erhebung der beruflichen Weiterbildung (CVTS) erfassten Inhalte hinausgehen.
- 21. Der Bundesrat bekräftigt nachdrücklich seine Ablehnung der Festlegung von genuinen benchmarks zur Überprüfung der Qualität der mitgliedstaatlichen Bildungssysteme und weist darauf hin, dass gemäß den Ratsschlussfolgerungen vom 5. Mai 2003 lediglich benchmarks in Form von europäischen Durchschnittsbezugswerten angenommen wurden, die keine Festlegung einzelstaatlicher Ziele enthalten und keine Entscheidungen vorgeben, die von den jeweiligen Regierungen getroffen werden müssten (vgl. BR-Drucksache 870/02(Beschluss) sowie zuletzt BR-Drucksache 837/07(B) ). Darüber hinaus betont der Bundesrat, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen des Bildungsministerrates am 25. Mai 2007 der Kommission kein Mandat zum Vorschlag neuer europäischer Durchschnittsbezugswerte (benchmarks) oder gar genuiner benchmarks erteilt haben, und dass jegliche Diskussion über neue europäische Durchschnittsbezugswerte im Rahmen einer etwaigen Weiterentwicklung des kohärenten Rahmens für Indikatoren und benchmarks zu erfolgen hat.
- 22. Der Bundesrat stellt fest, dass sich die Kommission bei ihrer Einschätzung der Auswirkungen der Empfehlung auf den EU-Haushalt widerspricht. Einerseits sei durch die Inanspruchnahme des Unterkapitels Leonardo da Vinci des Aktionsprogramms für lebenslanges Lernen (2007 - 2013) die Einstellung zusätzlicher Mittel in den Haushalt nicht erforderlich, andererseits wird jedoch für die beabsichtigte Überwachung der mitgliedstaatlichen Bildungssysteme mit Kosten gerechnet. Da diese im Kommissionsvorschlag nicht beziffert werden, bittet der Bundesrat die Bundesregierung, die Kommission zu einer Darlegung der finanziellen Auswirkungen für die Gemeinschaftsebene aufzufordern.
- 23. Unabhängig von seiner grundsätzlich ablehnenden Haltung zu einer Kontroll- und Überwachungsfunktion der Kommission hinsichtlich der Umsetzung mitgliedstaatlicher Ziele im Bereich der Berufsbildung weist der Bundesrat vorsorglich auf die erheblichen diesbezüglichen Implikationen für die mitgliedstaatliche Ebene hin. Der Bundesrat hegt vor allem mit Blick auf das Überwachungsverfahren starke Zweifel, dass bei der Umsetzung der Verwaltungsaufwand für die Akteure im mitgliedstaatlichen Bereich wie von der Kommission dargestellt auf ein Minimum beschränkt bliebe. Vielmehr dürften erhebliche Kosten sowohl auf Systemebene als auch auf Seiten der Anbieter entstehen. Ferner weist der Bundesrat darauf hin, dass die im Hinblick auf die Überwachungsverfahren geforderte innerstaatliche Verbindlichkeit problematisch ist, da die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Akteure nicht zu einer Anwendung eines ohnehin auf Freiwilligkeit basierenden Systems verpflichten können.
- 24. Der Bundesrat betont, dass im Rahmen eines auf Freiwilligkeit beruhenden Verfahrens die Implementierungsmodalitäten eines Bezugsrahmens in die alleinige Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Ebene fallen und es somit den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben muss, ob und ggf. wann und in welcher Form ein von der Kommission geforderter "nationaler Bezugspunkt für die Qualitätssicherung in der Berufsbildung" eingerichtet werden soll und welche Aufgaben dieser zu leisten hat.
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- 25. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.