Empfehlungen der Ausschüsse
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

900. Sitzung des Bundesrates am 21. September 2012

A

Dieser Grundsatz kommt hier in zweifacher Hinsicht zum Tragen: Zum einen geht es - auf der Tatbestandsseite - um Ausnahmen von materiellen Vorschriften des Straßenverkehrsrechts. Zum anderen handelt es sich - auf der Rechtsfolgenseite - um eine Ausnahme von der Entscheidung des Verfassungsgebers, dass Rechtsverordnungen auf Grund von Gesetzen, die von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt werden, der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Diese in zweifacher Hinsicht vorgesehene Abweichung vom normativen Regelfall begründet in besonderer Weise die Notwendigkeit, den Begriff der "allgemeinen Ausnahmen" in § 6 Absatz 3, 2. Alternative StVG eng auszulegen. Der systematische Zusammenhang mit § 6 Absatz 1 und Absatz 3,

Auch in Bezug auf die Rechtsverordnung, die nun den Gegenstand des Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht bildet, konnte § 6 Absatz 3, 2. Alternative StVG nicht als Rechtfertigung dafür herangezogen werden, beim Erlass der Rechtsverordnung von der Einholung der Zustimmung des Bundesrates abzusehen. Diese Rechtsverordnung enthält keine "allgemeinen Ausnahmen" von den Bestimmungen Straßenverkehrsrechts im Sinne des § 6 Absatz 3, 2. Alternative StVG. Mit ihr sind keine punktuellen Ausnahmen zu einzelnen Regelungen der Straßenverkehrs-Ordnung, zur Fahrzeug-Zulassungsverordnung etc. geschaffen worden, die in ihrer Bedeutung so untergeordnet sind, dass der Aufwand einer erneuten Befassung des Bundesrates außer Verhältnis zum föderalen Nutzen gestanden hätte, der sich aus einer Beteiligung des Bundesrates ergibt. Vielmehr fußt der mit der Rechtsverordnung zugelassene Feldversuch insgesamt auf einem breit angelegten, umfangreichen und originären Sonderregelungssystem, das sich in seiner Gesamtkonzeption nicht einfach von den bestehenden Vorschriften des Straßenverkehrsrechts ableiten lässt.

Berücksichtigt man darüber hinaus, dass dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aus der vor dem Erlass der Rechtsverordnung durchgeführten Anhörung bekannt war, dass mehrere Länder erhebliche grundsätzliche Bedenken gegen das Regelungsvorhaben äußern, lag es nahe, dass eine Anwendung von § 6 Absatz 3, 2. Alternative StVG nicht erfolgen kann.

Begründung (nur gegenüber dem Plenum):

Im Koalitionsvertrag (Bund) von CDU, CSU und FDP aus dem Jahr 2009 wurde vereinbart, neue Nutzfahrzeugkonzepte durch die "maßvolle Erhöhung der Lkw-Fahrzeuggrößen und -gewichte" zu ermöglichen und deren Chancen und Risiken in einem bundesweiten Feldversuch zu evaluieren. Die Möglichkeit hierzu ergibt sich aus Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie 96/53/EG des Rates vom 25. Juli 1996 zur Festlegung der höchstzulässigen Abmessungen für bestimmte Straßenfahrzeuge im innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verkehr in der Gemeinschaft sowie zur Festlegung der höchstzulässigen Gewichte im grenzüberschreitenden Verkehr (ABl. L 235 vom 17.9.1996, S. 59 - 75). Zur Umsetzung der Koalitionsvereinbarung hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - nach Anhörung der zuständigen obersten Landesbehörden - am 21. Dezember 2011 die Verordnung über Ausnahmen von straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften für Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen mit Überlänge - LKWÜberlStVAusnV - im Bundesanzeiger verkündet (eBAnz 2011, AT 144 V2, BGBl. 2011 I S. 3147), ohne zuvor die Zustimmung des Bundesrates eingeholt zu haben. Aus der Eingangsformel der Rechtsverordnung ergibt sich, dass sich das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beim Erlass der Rechtsverordnung auf § 6 Absatz 1

Nummer 1 Buchstabe c, Nummer 2 Buchstabe a, c k und x, Nummer 3 einleitender Satzteil und Nummer 5a StVG gestützt hat. Das Absehen von einer Beteiligung des Bundesrates versucht das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit einem Hinweis auf die Ausnahmevorschrift des § 6 Absatz 3 StVG zu rechtfertigen. Die Rechtsverordnung ist am 1. Januar 2012 in Kraft getreten.

Der Feldversuch, dem im Anhörungsverfahren nur ein Teil der Länder zugestimmt hat, ist Bestandteil des Aktionsplans "Güterverkehr und Logistik" des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Angesichts des prognostizierten Verkehrswachstums im Bereich des Güterverkehrs um 25 Prozent bis 2025 im Vergleich zum Jahr 2004 sei nach der Begründung der Verordnung eine "effiziente Gestaltung aller Verkehrsträger von größter Bedeutung". Am Feldversuch sollen Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen mit Überlänge teilnehmen, um valide Aussagen über Umweltauswirkungen, Effizienzsteigerungen im Transport, Verkehrssicherheit und infrastrukturelle Auswirkungen zu erhalten. Da Fahrzeuge mit höheren Gesamtmassen wegen der höheren kinetischen Energie ein höheres Gefahrenpotential aufweisen, sollen ausschließlich längere, nicht aber schwerere Fahrzeuge den Feldversuch bestreiten. Der Feldversuch ist räumlich beschränkt. Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen mit Überlänge dürfen nur auf dem in § 2 LKWÜberlStVAusnV (nebst Anlage) festgelegten Streckennetz verkehren.

Die Durchführung des Feldversuchs ist bereits seit geraumer Zeit Gegenstand einer verkehrspolitischen Kontroverse. Die Gegner der Maßnahme verweisen auf das Interesse, den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Auch hinsichtlich der Verkehrssicherheit werden Bedenken erhoben. Die Verkehrsministerkonferenz hat im Oktober 2011 verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, den Feldversuch durch eine Ausnahmeregelung nach § 6 Absatz 3 StVG ohne Befassung des Bundesrates zu regeln. Diese Bedenken sind begründet. Hinzu kommen weitere verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Rechtsverordnung, die u.a. die Frage betreffen, ob die vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung herangezogene Verordnungsermächtigung als gesetzgeberische Entscheidung über die Zulassung des Feldversuchs ausreicht.

Im März 2012 haben 214 Abgeordnete des Deutschen Bundestages durch ihren Bevollmächtigten beim Bundesverfassungsgericht einen auf die Verordnung über Ausnahmen von straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften für Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen mit Überlänge bezogenen Normenkontrollantrag nach Artikel 93 Absatz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 13 Nummer 6 und § 76 BVerfGG einreichen lassen (2 BvF 1/12). Darin wird geltend gemacht, dass die Rechtsverordnung sowohl in formell- als auch in materiellrechtlicher Hinsicht gegen das Grundgesetz verstößt. In formellrechtlicher Hinsicht beanstanden die Antragsteller vor allem, dass der Verordnungsgeber die Grenzen der ihm mit § 6 Absatz 1 StVG erteilten Verordnungsermächtigung überschritten und außerdem das durch Artikel 80 Absatz 2 des Grundgesetzes begründete Erfordernis missachtet habe, die Zustimmung des Bundesrates zum Erlass der Verordnung einzuholen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesrat nun nach § 77 Nummer 1 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

Belange des Bundesrates werden durch das Normenkontrollverfahren vor allem dadurch berührt, dass die Frage nach dem Erfordernis der - nicht erfolgten - Beteiligung des Bundesrates im Normsetzungsverfahren aufgeworfen ist. Dabei geht es zum einen darum, ob die den Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung bildenden Regelungen überhaupt durch Rechtsverordnung getroffen werden konnten oder ob es hierzu eines förmlichen Gesetzes bedarf, an dessen Erlass der Bundesrat zwingend zu beteiligen ist. Zum anderen geht es um die Frage, ob - unterstellt, dass eine Regelung durch Rechtsverordnung überhaupt in Betracht kommt - der Verordnungsgeber befugt war, die Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates zu erlassen. Beide Fragen dürften zu verneinen sein. Daher empfiehlt es sich, dass der Bundesrat gegenüber dem Bundesverfassungsgericht zu dem Normenkontrollverfahren Stellung nimmt und geltend macht, dass mit dem Erlass der Rechtsverordnung seine verfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte im Normsetzungsverfahren missachtet worden sind.

B