Der Bundesrat hat in seiner 810. Sitzung am 29. April 2005 beschlossen, zu dem Nationalen Aktionsplan wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat nimmt den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung für ein kindergerechtes Deutschland 2005 bis 2010 zur Kenntnis und stimmt mit der Zielsetzung überein, dass auf allen politischen Ebenen Anstrengungen unternommen werden müssen, um ein kindergerechtes Gemeinwesen zu fördern und zu sichern.
Der Bundesrat erkennt die Absicht des Bundes an, mit der Vorlage des Nationalen Aktionsplans für ein kindergerechtes Deutschland Ziele und Handlungsoptionen für eine Verbesserung der Lebenssituation von Familien und Kindern zu beschreiben.
Trotzdem bleiben folgende Kritikpunkte bestehen:
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die Bundesregierung die Zuspitzung in den Lebenslagen vieler Kinder und Familien unzureichend gewichtet.
Dies bezieht sich insbesondere auf die Ergebnisse des Zweiten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, dem ein besorgniserregender Anstieg der Kinderarmut in Deutschland zu entnehmen ist. Im Nationalen Aktionsplan wird der Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Zuspitzung von Lebenslagen von Kindern und Familien weitgehend ausgeblendet. Nicht erwähnt wird ebenso, dass insbesondere die Situation Alleinerziehender sich durch diese Entwicklung deutlich verschärft hat.
Ebenso verschweigt der Bund bei der Hervorhebung der zusätzlichen Transferleistungen für Familien, dass sich dadurch die Finanzsituation vieler Familien nicht verbessert hat, da andere Belastungen erheblich angestiegen sind. So wird beispielsweise eine Familie mit mehreren Kindern durch die Ökosteuer zwangsläufig wesentlich höher belastet als Haushalte ohne Kinder.
Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist die zunehmende Isolation der Lebenssituation vieler Familien, die von sich aus häufig keine Institution der Jugendhilfe und des Gesundheitsdienstes aufsuchen. So ist 2004 die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen wieder erheblich zurückgegangen.
Vor diesem Hintergrund teilt der Bundesrat die Zielsetzung des Bundes, die niedrigschwelligen familienfördernden Angebote vor Ort auszubauen. Der Bund bietet in seinem Aktionsplan und Maßnahmenkatalog jedoch keine konkreten Hilfestellungen an, um diese Ziele zu erreichen.
Der Bundesrat stellt fest, dass die im Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland von der Bundesregierung gemachten Vorschläge zum Kinder- und Jugendhilferecht bloße Absichtserklärungen ohne finanzielle Auswirkungen für den eigenen Haushalt darstellen.
Im Gegensatz zu den Absichtserklärungen der Bundesregierung stehen die vom Bundesrat eingebrachten Änderungsvorschläge zum Kinder- und Jugendhilferecht. Sie beinhalten nicht nur die Zurückgewinnung finanzpolitischer Gestaltungsspielräume für eine aktive Kinder- und
Familienpolitik, sondern auch Regelungen zur Verbesserung des Kinderschutzes und zum Umgang mit Kindeswohlgefährdungen.
Auch hier hat der Bund bisher nicht auf Vorschläge der Länder reagiert. Vielmehr hat der Bund sich entschlossen, mit der Abtrennung des Tagesbetreuungsausbaugesetzes (TAG) von dem zustimmungspflichtigen Gesetzesteil zum SGB VIII die Länder vom Entscheidungsprozess auszugrenzen. Die im Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland hervorgehobene Gemeinsamkeit des Handelns von Bund, Ländern und Gemeinden stellt bisher ein bloßes Lippenbekenntnis dar, während im politischen Alltag vom Bund eine Politik der zentralistischen und beratungsresistenten Vorgabenpolitik verfolgt wird.
Der Bundesrat fordert deshalb die Bundesregierung auf, den zweiten Teil eines Gesetzes zur Reform des Kinder- und Jugendhilferechts einzubringen und die zahlreichen Anträge des Bundesrates aufzugreifen, damit der Umgang mit Kindeswohlgefährdungen zukünftig besser und zielgerichteter erfolgen kann.
Den Vorschlag der Länder, das Ziel der Integration auch im Kinder- und Jugendhilferecht zu verankern, hat die Bundesregierung bisher nur unzureichend aufgenommen. Außerdem fehlen weiterhin die Voraussetzungen, die Betriebserlaubnis für Einrichtungen abzulehnen, die eindeutig das Ziel haben, das Aufwachsen muslimischer Kinder in Deutschland in internatsmäßigen Einrichtungen als Gegengesellschaft zu etablieren. Ebenso müssen die Vorschläge der Länder zur Entbürokratisierung und angemessenen Eigenbeteiligung Betroffener aufgegriffen werden, um die Gestaltbarkeit der für die Jugendhilfe zur Verfügung stehenden Mittel für die Kommunen zu erhöhen und damit dringend notwendige Umbauprogramme im Bereich niedrigschwelliger Familienangebote fördern zu können.
- 3. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Entscheidungen über Maßnahmen im Bildungsbereich der Verantwortung der Länder obliegen, da die Bildungshoheit das Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder darstellt (s. BVerfGE 6, 309). Dem Bund stehen allein im Bereich der außerschulischen beruflichen Bildung Kompetenzen zu. Die dem Bund im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung zustehenden Kompetenzen für eine gemeinsame Bildungsplanung beziehen sich nicht auf die Umsetzung von Modellvorhaben; die gemeinsame Bildungsplanung entbindet die Länder nicht von ihrer umfassenden Verantwortung für die Gestaltung der Bildung.
Der Bundesrat stellt deshalb fest, dass bildungsbezogene Einzelfragen wie
- - die Unterrichtsinhalte und Unterrichtsmethoden,
- - die Lehrplangestaltung einschließlich der Erarbeitung von Unterrichtsmodulen,
- - der Fremdsprachenerwerb,
- - die Lerngruppenbildung,
- - die Bereitstellung eines integrativen Bildungsangebots entsprechend dem individuellen Förderbedarf der Kinder,
- - die Einbindung außerschulischer Gruppen,
- - die Lehrerbildung, die Erzieherausbildung und
- - die Schulorganisation auch hinsichtlich der Beteiligung von Schülern
nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes allein in die Verantwortung der Länder fallen. Die Länder haben die Anforderungen und Probleme einer modernen Wissensgesellschaft und die Notwendigkeit von Reformen in der Zeit des Wechsels zu einer globalisierten Welt erkannt und entsprechend eigene Konzepte entwickelt. Die unterschiedlichen Vorstellungen der Länder dienen insofern dem Wettbewerb um die beste Lösung; von den Ländern gemeinsam erarbeitete Bildungsstandards sowie zahlreiche Maßnahmen im Rahmen der länderübergreifenden Zusammenarbeit in der Kultusministerkonferenz ermöglichen trotz der Vielfalt im Bildungssystem die Mobilität der Lehrenden und Lernenden.
Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Durchlässigkeit der Bildungssysteme in den Ländern seit langem gewährleistet ist und der Weg bis zu den Hochschulen und zu hochwertigen beruflichen Abschlüssen unabhängig vom ursprünglich gewählten schulischen Bildungsgang entsprechend Befähigten und Begabten offen steht.
Die PISA-Studie 2000 hat große Leistungsunterschiede der Schüler festgestellt. Der Bundesrat weist aber darauf hin, dass in Ländern mit gegliedertem Schulsystem die Schülerinnen und Schüler, die im unteren Leistungsniveau angesiedelt sind, besser abgeschnitten haben als die entsprechenden Schülerinnen und Schüler in Ländern mit integrativem Schulsystem.
Das Prinzip "Fördern und Fordern" war stets der Grundgedanke der Bildungspolitik der Länder. Organisatorische Maßnahmen wie z.B. gesonderte Sprachklassen und Intensivierungsstunden zur Vertiefung insbesondere für schwächere Schüler wurden bereits mit Erfolg eingeführt. Der Bundesrat weist aber darauf hin, dass gerade die Chancen von Kindern mit Migrationshintergrund nicht nur vom Bildungssystem, sondern auch von der Intergrationswilligkeit und -fähigkeit der Eltern sowie den vom Bund in dieser Hinsicht zu unternehmenden Maßnahmen abhängen.
Zur Frage der Beschulung der Kinder mit besonderem Förderbedarf weist der Bundesrat darauf hin, dass diese Frage von den Ländern unter Berücksichtigung des individuellen Förderbedarfs in eigener Verantwortung entschieden wird.
Der Ausbau der Ganztagsschulen wird von den Ländern entsprechend den Wünschen der Eltern und der für die Bildung Verantwortlichen bei ihren weiteren Planungen und Ausbauzielen berücksichtigt. Das Investitionsprogramm der Bundesregierung "Zukunft Bildung und Betreuung", das allein Mittel für Investitionen in Baumaßnahmen zur Verfügung stellt, bewirkt somit allein keine Veränderung der Lern- und Lehrkultur und kann keine Weichen für die von der Bundesregierung behauptete gemeinsame Bildungsreform stellen.
Die Beurteilung der Frage, ob und durch welche Maßnahmen mehr männliche Pädagogen gewonnen werden könnten, steht den Ländern zu. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Länder auch bei der Bewerberauswahl von Grundschullehrkräften nicht gegen den Gleichheitssatz verstoßen dürfen.
Der Bundesrat stellt fest, dass aus der internationalen Verpflichtung der Bundesregierung zur Aufstellung eines Nationalen Aktionsplans für den Bund keine dem Grundgesetz widersprechenden Kompetenzen im Bildungsbereich entstehen. Vielmehr hätte die Bundesregierung bereits bei der Redaktion des Berichts in Bezug auf die bildungsrelevanten Fragen die Länder beteiligen müssen. Der von der Bundesregierung aufgestellte nationale Aktionsplan kann deshalb für die Länder in dieser Hinsicht keine Geltung beanspruchen.
Der Bundesrat weist darauf hin, dass sowohl die Beobachtung und Auswertung der laufenden Aktivitäten (Monitoring) als auch die Gesamtüberprüfung und -bewertung (Evaluation) der erzielten Ergebnisse im Bildungsbereich in die vorrangige Zuständigkeit der Länder fallen. Nicht die Bundesregierung, sondern die Länder sind daher für die Gestaltung des Verfahrens zur Steuerung der Umsetzung des nationalen Aktionsplanes in Bezug auf bildungsrelevante Fragen sowie für inhaltliche Aspekte der Umsetzung verantwortlich.