Der Bundesrat hat in seiner 874. Sitzung am 24. September 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission Leitlinien für die europäische Straßenverkehrssicherheitspolitik vorgelegt hat. Auch wenn diese nicht in allen Punkten der bisherigen Haltung der Bundesrepublik Deutschland entsprechen, stellen sie doch insgesamt ein wichtiges Ziel in den Vordergrund. Mit den Leitlinien für den Zeitraum von 2011 bis 2020 wird weiterhin das Ziel verfolgt, die Gesamtzahl der Verkehrstoten um die Hälfte zu verringern. Europaweit kommen jährlich immer noch zu viele Menschen im Straßenverkehr ums Leben, sodass hier nachhaltige Anstrengungen erforderlich sind.
- 2. Um jenes Ziel zu erreichen, schlägt die Kommission ein umfangreiches Maßnahmenpaket vor. Grundsätzlich begrüßt der Bundesrat alle Maßnahmenvorschläge, die geeignet erscheinen, die Straßenverkehrssicherheit in Europa zu verbessern. Hierzu gehören unter anderem die Vorschläge zur Förderung der aktiven und passiven Sicherheit von Fahrzeugen sowie die Durchführung des Aktionsplans zur Einführung intelligenter Verkehrssysteme in Europa. Gerade im Aufbau und in der schnellen Verbreitung eines reibungslosen Informationsaustausches zwischen den Fahrzeugen untereinander und mit der Verkehrsinfrastruktur ist ein hohes Potenzial zur wesentlichen Verbesserung der Verkehrssicherheit gegeben.
- 3. Der Bundesrat bekräftigt das von der Kommission herausgehobene Subsidiaritätsprinzip. Nach Auffassung des Bundesrates ist darauf zu achten, dass auf die unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU Rücksicht genommen wird. Es sollte Raum für innerstaatliche Lösungen bleiben. In diesem Zusammenhang ist zwingend das Subsidiaritätsprinzip zu beachten. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Straßenverkehrsinfrastruktur. Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein mit der Wissenschaft entwickeltes Regelwerk auf dem Gebiet des Straßenwesens. In die Fortschreibung der Regelwerke fließen kontinuierlich die Kenntnisse aus der Unfallforschung ein. Weitere Vorgaben seitens der EU hält der Bundesrat nicht für erforderlich; denn solche Richtlinienwerke ziehen in der Regel zusätzlichen bürokratischen Aufwand nach sich und schränken unnötig die gestalterischen Freiräume in der Infrastrukturplanung ein.
Der Bundesrat stellt fest, dass das Subsidiaritätsprinzip noch stärker als bisher in den einzelnen Zielen der Leitlinien herausgestellt werden sollte. So ist beispielsweise die Strategie im Bereich der Verkehrserziehung/Fahrausbildung (Ziel 1) nicht "gegebenenfalls", sondern in jedem Fall in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten zu erarbeiten. Maßnahmen sollten nur dann auf europäischer Ebene ergriffen werden, wenn sich dadurch nachweislich ein größerer Erfolg erzielen lässt als bei (abgestimmten) nationalen Maßnahmen. Insbesondere im Bereich der Verkehrsüberwachung ist diese Prognose aber aus Sicht des Bundesrates nicht gegeben.
Auch die Überwachungstätigkeiten und die Überwachungsintensität bei allgemeinen Verkehrskontrollen sollten weiterhin alleinige Aufgabe der Mitgliedstaaten bleiben.
- 4. Der Bundesrat erkennt grundsätzlich die Beibehaltung eines konkreten Ziels durch die Kommission an, da dies einen Anreiz zur Zielerreichung darstellen kann. Er weist aber ausdrücklich darauf hin, dass angesichts der Senkungsraten in den vergangenen Jahren eine weitere Halbierung der Zahl der Verkehrsunfalltoten in Deutschland sehr optimistisch ist. Er legt daher Wert darauf, dass eine möglicherweise eintretende Zielverfehlung nicht zu Nachteilen für die Mitgliedstaaten oder zu legislativen Maßnahmen durch die EU führen darf.
- 5. Der Bundesrat hält es für sachgerecht, dass die Kommission die Verkehrserziehung und Fahrausbildung/Fahrtraining verbessern will. Er bittet aber die Kommission zu beachten, dass auch unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklung die individuelle Mobilität lebensälterer Menschen grundsätzlich gewährleistet sein muss. Er sieht insoweit derzeit auch kein Erfordernis für eine europaweit einheitliche Regelung.
- 6. Das hohe Niveau im Bereich des Fahrerlaubniswesens muss erhalten bleiben. Es darf zu keiner Qualitätsverschlechterung kommen. Den Vorstellungen der Kommission, ein begleitetes Fahren vor dem Erwerb eines Führerscheins in die Fahrausbildung aufzunehmen, kann daher nicht zugestimmt werden. Mit einer solchen Maßnahme würde ein erheblicher Teil der Fahrausbildung in die Hände der Eltern der jugendlichen Fahranfänger gelegt. Die Einführung einer solchen Möglichkeit würde dem bisher in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Prinzip einer professionellen Fahrausbildung von Jugendlichen zuwiderlaufen. Gerade aus Gründen der Verkehrssicherheit wurde hierzulande vor vielen Jahren die so genannte Mama-Papa-Ausbildung aufgegeben. Die Einführung eines obligatorischen Fahrtrainings für Nichtberufskraftfahrer nach dem Führerscheinerwerb ist ebenfalls abzulehnen. Hierfür besteht nach dem vorliegenden Zahlenmaterial bezüglich der Unfallbeteiligung älterer Fahrerlaubnisinhaber kein Anlass.
- 7. Der Bundesrat begrüßt sowohl das Ziel, Straßenverkehrsvorschriften verstärkt durchzusetzen, als auch, dass die Kommission sich verstärkt in diesem Bereich einsetzen möchte.
Er erachtet den grenzübergreifenden Informationsaustausch, die gemeinsame Anwendung bewährter Praktiken und Aufklärungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen als gut geeignete Mittel.
Ein grenzüberschreitender Informationsaustausch muss hinzukommen, damit Verkehrsverstöße, die in anderen Mitgliedstaaten begangen werden, auch national zu entsprechenden Maßnahmen führen können. Eine solche Strategie ist unabdingbar. Als Beispiel sei darauf verwiesen, dass die Fahrerlaubnis zwar EU-weit gilt, ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis jedoch keine EU-weite Wirksamkeit entfaltet.
- 8. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass sicherere Fahrzeuge einen wesentlichen und erfolgversprechenden Ansatzpunkt für eine höhere Sicherheit im Straßenverkehr darstellen. Er sieht in diesem Punkt eines der zentralen Betätigungsfelder der EU. Der Bundesrat begrüßt daher eine Vereinheitlichung der technischen Überwachung. Für eine Vereinheitlichung der technischen Unterwegskontrollen sieht er kein Erfordernis. Er sieht zudem ein zwingendes Erfordernis dafür, für den Fahrzeugbestand einen Bestandschutz auch bei fortschreitender Entwicklung im Bereich von Neufahrzeugen zu gewährleisten.
- 9. Der Vorschlag der Kommission, das Augenmerk verstärkt auf Fahrzeugkategorien zu richten, denen in der Vergangenheit weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde - wie etwa Motorräder -, erscheint sinnvoll. Dies gilt auch für die wachsende Zahl von Fahrzeugen mit alternativen Antrieben. Ein wichtiger Meilenstein sollte in diesem Zusammenhang auch sein, die periodisch wiederkehrende Prüfung von Kraftfahrzeugen im europäischen Raum so weit zu vereinheitlichen, dass mögliche Unterschiede bei der technischen Überwachung allenfalls noch gradueller Art sind. Den Fahrzeughaltern sollte auch ermöglicht werden, die periodische Fahrzeugüberwachung in jedem Mitgliedstaat durchführen lassen zu können. Dies würde auch die technische Überwachung von Fahrzeugen, die sich über längere Zeiträume in anderen Mitgliedstaaten befinden - wie etwa Wohnmobile und Wohnwagenanhänger -, deutlich erleichtern.
- 10. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die bereits heute oder in Kürze zur Verfügung stehenden technischen Mittel möglichst bald umfassend eingesetzt werden müssen, um das europäische Ziel einer weiteren deutlichen Senkung der Verkehrsunfallopfer zu erreichen. Die von der Kommission für die kommenden zehn Jahre benannten sieben Ziele sind deshalb im Bereich "Sichere Fahrzeuge" (Ziel 4) ergänzungsbedürftig. Neben der in den Maßnahmen aufgeführten Erhöhung der Motorradsicherheit und europaweiten Verbesserung der technischen Überwachung sind angesichts der prognostizierten Güterverkehrsströme Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit bei schweren Nutzfahrzeugen durch eine automatische Reifendrucküberwachung und Umfeldüberwachung erforderlich, zumal Reifendrucküberwachungssysteme ab Oktober 2012 für neue Pkw vorgeschrieben werden.
- 11. Der Bundesrat bekräftigt daher seine Forderung vom 15. September 2009, automatische Reifendrucküberwachungssysteme und - in Ergänzung zu den künftigen Sicherheits-Assistenzsystemen - auch eine aktive Umfeldüberwachung für schwere Nutzfahrzeuge möglichst bald EU-weit verpflichtend einzuführen (vgl. BR-Drucksache 265/09(B) ). Der Bundesrat bittet deshalb die Bundesregierung, auf europäischer Ebene darauf hinzuwirken, das strategische Ziel 4 "Sichere Fahrzeuge" durch die Maßnahme "automatische Reifendrucküberwachung bei schweren Nutzfahrzeugen" sowie "Umfeldüberwachung" zu ergänzen.
- 12. Der Bundesrat unterstützt die Nutzung moderner Technologien für mehr Sicherheit im Straßenverkehr, weist aber darauf hin, dass diese in national vorhandene Systeme kompatibel eingebunden werden müssen.
- 13. Der Bundesrat teilt die Absicht der Kommission, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die Notfalldienste und Dienste für die Betreuung von Verletzten zu verbessern.
- 14. Schwächere Verkehrsteilnehmer besser zu schützen, ist ein sehr wichtiges Ziel. Dies wird aber nicht durch eine zusätzliche Überwachung kleinerer motorisierter Zweiräder wie Mofas oder Mopeds erreicht. Der entsprechende Vorschlag der Kommission geht deshalb über das Ziel hinaus; denn der Anteil an Unfällen, die bei diesen Fahrzeugen auf technische Mängel zurückgehen, ist verschwindend gering. Der Aufbau einer technischen Überwachung in diesem Bereich würde zu unnötiger Bürokratie ohne erkennbaren Gewinn für die Verkehrssicherheit führen.
- 15. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission auch überein, dass der Schutz der schwächeren Verkehrsteilnehmer ein zentrales Anliegen der Verkehrssicherheitsarbeit sein muss. Er weist die Kommission allerdings darauf hin, dass die Schwerpunktsetzung bei der Verkehrsüberwachung allein im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten liegt und verbleiben muss.
- 16. Nicht in ausreichendem Maße befassen sich die Leitlinien mit der Entwicklung im Radverkehrsbereich, dem zunehmenden Einsatz von Elektrofahrrädern wie Pedelec oder E-Bikes. Hier sind für die Zukunft maßgebende Veränderungen im Verkehrsverhalten zu erwarten, die Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit haben können. Die Verkehrsregeln werden sich diesen Veränderungen anpassen müssen. Die Gestaltung von Radverkehrsanlagen bezogen auf Sicherheitsniveau und Akzeptanz ist zu überdenken; auch die Verkehrsaufklärung wird insoweit zu intensivieren sein. Deshalb hält es der Bundesrat für wünschenswert, wenn sich die Kommission unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips mit dieser Thematik befassen würde.
- 17. Infolge des demographischen Wandels und des sich ändernden Mobilitätsverhaltens im Alter gewinnt das Thema "Senioren im Straßenverkehr" verstärkt an Bedeutung. Es wird zunehmend wichtiger, frühzeitig die Belange älterer und auch behinderter Menschen zu berücksichtigen und Lösungen zu erarbeiten. Dies betrifft sowohl das Verhalten der Senioren, das Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer als auch die Ausgestaltung der Infrastruktur. Hier wäre nach Auffassung des Bundesrates ein größeres Engagement seitens der Kommission angezeigt.
- 18. Der Bundesrat begrüßt den Ansatz, EU-Mittel für Infrastruktur nur zu gewähren, wenn diese mit den Richtlinien für die Sicherheit im Straßenverkehr und die Sicherheit von Tunneln übereinstimmen. Er begrüßt die Ausdehnung der Förderung der relevanten Grundsätze des Infrastruktursicherheitsmanagements auf Straßen zweiter Ordnung unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips durch die Kommission.