873. Sitzung des Bundesrates am 9. Juli 2010
A.
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Anstrengungen der EU, den europaweiten Anstieg der Anzahl illegal einreisender unbegleiteter Minderjähriger zum Anlass zu nehmen, ein gemeinsames Konzept zur Lösung der daraus resultierenden Herausforderungen aufzustellen. Er ist aber der Auffassung, dass der Aktionsplan die Erhöhung der Aufnahme- und Schutzgarantien unbegleiteter Minderjähriger zu einseitig in den Vordergrund stellt und Gefahr läuft, den durch das Stockholmer Programm gezogenen politischen Rahmen zu überschreiten. Die in der Mitteilung über den Aktionsplan eingangs aufgestellte Prämisse, der Grundsatz des Kindeswohls sei bei allen Maßnahmen "vorrangig" zu berücksichtigen (siehe Abschnitt 1 der Mitteilung, Seite 3), steht nicht im Einklang mit der Aussage des Stockholmer-Programms, wonach die im Aktionsplan vorzuschlagenden Maßnahmen dem Wohl der Kindes (nur) "Rechnung zu tragen" haben (siehe dort unter Nummer 6.1.7).
- 2. Der Bundesrat unterstützt den präventiven Ansatz, die grundlegenden Ursachen der illegalen Migration unbegleiteter Minderjähriger in den Herkunftsländern an ihren Wurzeln anzugehen. Er begrüßt das Ziel, kriminelle Strukturen wie Menschenhandel und Schleusung in den Herkunfts- und Transitländern stärker zu bekämpfen. Der weitere Vorschlag, gezielte Informationskampagnen einzusetzen, um falsche Mythen über das Leben in Europa zu vermeiden, wird ebenfalls unterstützt.
- 3. Der Bundesrat begrüßt die Absicht der Kommission, dafür Sorge zu tragen, dass die geltenden EU-Rechtsvorschriften zum Schutz unbegleiteter Minderjähriger in allen Mitgliedstaaten korrekt umgesetzt werden. Darüber hinausgehende gemeinsame Normen für die Aufnahme und Unterstützung unbegleiteter Minderjähriger, beispielsweise zu Vormundschaft und Rechtsbeistand, Zugang zu Unterbringung und Versorgung, erste Befragungen, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsversorgung usw. (siehe Abschnitt 4.1, Seite 10), hält der Bundesrat angesichts des schon bestehenden umfassenden EU-Besitzstands nicht für notwendig. Die derzeitigen Regelungen, insbesondere innerhalb der Asylverfahrensrichtlinie, der Richtlinie über Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, der Familienzusammenführungs- und Rückführungsrichtlinie, enthalten angemessene und ausreichende Schutzbestimmungen zugunsten (unbegleiteter) Minderjähriger.
- 4. Soweit der Aktionsplan auf die Bestrebungen der Kommission verweist, im Rahmen der zweiten Phase der Asylrechtsharmonisierung geltende Schutzstandards zu erhöhen und neue Verfahrensgarantien einzuführen, bekräftigt der Bundesrat seine hierzu beschlossenen Stellungnahmen - siehe BR-Drucksachen 961/08(B) , 965/08(B) , 791/09(B) , 792/09(B) -.
- 5. Äußerst kritisch sieht der Bundesrat, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zugunsten unbegleiteter Minderjähriger den Verantwortungsbereich der EU und der Mitgliedstaaten teilweise sehr weit ausdehnen und an die Grenze der Beherrschbarkeit des Migrationsgeschehens gehen. Das gilt zum Beispiel für die Forderung der Kommission im Zusammenhang mit der Rückführung, eine "wohlwollende" Aufnahme im Herkunftsland sicherzustellen und durch Überwachung der Wiedereingliederung zu gewährleisten, dass allgemein "keine größeren Probleme auftreten" (siehe Abschnitt 5.1, Seite 13 f).
- 6. Der Bundesrat bedauert, dass der Aktionsplan die Problematik der Altersbestimmung nur aus Sicht des Minderjährigenschutzes beleuchtet und das staatliche Interesse an der Identitätsklärung und Altersfeststellung illegal eingereister Personen ausblendet. Das Erfordernis der Altersbestimmung besteht nur deshalb, weil illegal Einreisende in aller Regel keine Ausweispapiere mit sich führen und gegenüber Behörden ihren gesetzlichen Mitwirkungspflichten zur Vorlage oder Beschaffung von Pass- und Identitätspapieren nicht nachkommen. Eine beträchtliche Anzahl jüngerer Asylbewerber trägt wahrheitswidrig vor, minderjährig zu sein, mit dem Ziel, trotz Ablehnung des Asylantrags nicht zurückgeführt zu werden oder Vorteile bei der sozialen Versorgung und Betreuung zu erhalten. Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, Bestrebungen der Kommission, Betroffene bis zum (vollen) Beweis des Gegenteils als Minderjährige zu behandeln (vgl. Abschnitt 4.2, Seite 12), entgegenzutreten. Er weist darauf hin, dass es nach wie vor keine wissenschaftliche Untersuchungsmethode gibt, mit der sich verlässliche oder sogar taggenaue Ergebnisse erzielen ließen. Es wäre auch mit dem asylrechtlichen Beschleunigungsgebot unvereinbar, behördliche Altersschätzungen von vorneherein als nicht ausreichend anzusehen, sondern zeit- und kostenaufwändige medizinische Gutachten als einzig verlässliche Erkenntnisquelle zu betrachten.
- 7. Bereits aus Kompetenzgründen tritt der Bundesrat der Ankündigung der Kommission entgegen, überprüfen zu wollen, ob gemeinsame Rechtsvorschriften zur Behandlung unbegleiteter Minderjähriger, die ausreiseverpflichtet sind, aber vorläufig nicht rückgeführt werden können, notwendig sind. Die Gemeinschaftskompetenz zur Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik umfasst ausschließlich die Festlegung von Rechten bzw. die Integration von sich rechtmäßig in den Mitgliedstaaten aufhaltenden Drittstaatsangehörigen. Die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Bleiberecht aus humanitären Gründen müssen auch künftig in nationaler Verantwortung festgelegt werden. Zudem ist absehbar, dass ein gemeinsamer Bestand an (Aufenthalts-)Rechten für ausreisepflichtige Minderjährige zu einer unerwünschten Sogwirkung und zu einem verstärkten Asylmissbrauch in der EU führen würde. Der Bundesrat begrüßt, dass der Rat der Justiz- und Innenminister in seinen Schlussfolgerungen vom 3. Juni 2010 diesen Vorschlag der Kommission nicht aufgegriffen hat.
- 8. Das Ziel des Aktionsplans, möglichst rasch über die Zukunft von unbegleiteten Minderjährigen zu entscheiden, wird begrüßt. Der Bundesrat hält die vorgeschlagene Höchstfrist von sechs Monaten allerdings für zu kurz, um in dieser Zeit auch ernsthaft nach Familienangehörigen und nach anderen Möglichkeiten für eine gesellschaftliche Wiedereingliederung im Herkunftsland suchen und diese verlässlich einschätzen zu können. Der Bundesrat weist auch darauf hin, dass die von der Kommission vorgelegten Änderungsvorschläge zum Asylbesitzstand angesichts der weitreichenden Erhöhung bestehender und Einführung neuer Verfahrens- und Schutzrechte für Asylsuchende dazu führen dürften, die Asylverfahren zu verzögern
B.
- 9. Der Ausschuss für Frauen und Jugend und der Rechtsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.