Der Bundesrat hat in seiner 992. Sitzung am 3. Juli 2020 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
I. Zu BR-Drucksachen 295/20 (PDF) , 297/20 (PDF) und 316/20 (PDF)
Allgemeines
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich den von der Kommission vorgelegten, vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie überarbeiteten Vorschlag für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) ab 2021 sowie den damit zusammenhängenden Vorschlag für die Schaffung eines gemeinschaftlichen Instruments ("Next Generation EU") zur Bewältigung der ökonomischen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie.
- 2. Die Vorschläge senden das richtige, unmissverständliche Signal: Europa muss zusammenstehen, die weitreichenden ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemie gemeinsam angehen, sich als starker globaler Akteur behaupten und diesen Moment Europas nutzen, um für kommende Generationen entscheidende Weichenstellungen zu treffen. Wir brauchen jetzt und in den kommenden Jahren einen Geist der Solidarität, um als Gemeinschaft, als EU, nicht nur langfristig gestärkt aus der Krise hervorzugehen, sondern um die EU für die Zukunft aufzustellen und ihre Rolle in einer sich rasant verändernden Welt zu definieren. Die EU-Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung ergänzt die nationalen Anstrengungen.
- 3. Der Wiederaufbau muss auf den Grundrechten und auf der uneingeschränkten Achtung der Rechtsstaatlichkeit basieren.
Der Bundesrat fordert daher, den Verordnungsvorschlag zum Schutz des Haushalts der Union im Fall von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten (vergleiche BR-Drucksache 245/18 (PDF) ) in einer rechtssicheren und wirksamen Form umzusetzen.
Der Bundesrat fordert ferner unter Verweis auf seine Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Aufstellung des Programms "Rechte und Werte" (vergleiche BR-Drucksache 231/18(B) ), den Schutz und die Förderung der in den EU-Verträgen verankerten Rechte und Werte sowie die Förderung des demokratischen Lebens in der Union und die Stärkung der Funktionsfähigkeit unabhängiger Justizsysteme durch eine deutliche Steigerung des Mittelansatzes der Rubrik "Justiz, Rechte und Werte" sowie durch die Ermöglichung entsprechender Maßnahmen in den dafür vorgesehenen Programmen zu unterstützen.
- 4. Die Covid-19-Pandemie stellt die EU vor bislang ungekannte medizinische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Die anstehenden Entscheidungen zum MFR 2021 bis 2027 bieten die Möglichkeit, solidarische und zugleich zukunftsgerichtete Weichenstellungen vorzunehmen, um die Union gestärkt aus der Krise zu führen. Der Grundgedanke der neuen Vorschläge, die Mitgliedstaaten bei der Krisenbewältigung zu unterstützen, aber vor allem auch ihre Resilienz und Zukunftsfähigkeit zu stärken, ist zu begrüßen. Der Bundesrat erachtet den von der Kommission vorgelegten, vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie überarbeiteten Vorschlag für den MFR 2021 bis 2027 sowie den damit zusammenhängenden Vorschlag für die Schaffung eines Aufbauinstruments ("Next Generation EU") insoweit als gute Grundlage für die anstehenden Verhandlungen.
- 5. Um den Auswirkungen der Krise europäisch und nachhaltig zu begegnen, muss der neue MFR nach Ansicht des Bundesrates ausreichend Mittel zur Verfügung stellen. Er unterstützt deshalb eine spürbare Erhöhung des Gesamtvolumens des EU-Haushalts. Der Bundesrat teilt die Sichtweise der Kommission, dass diese Ausgaben eine Investition in eine gemeinsame europäische Zukunft und in ein grünes, digitales und widerstandsfähiges Europa sind. Hierbei muss die wirtschaftliche Wiederbelebung nach der Covid-19-Pandemie einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz und zur Digitalisierung leisten. Eine Konzentration der Mittelverwendung in den ersten Jahren ("frontloading") ist dabei im Grundsatz zu begrüßen, um die wirtschaftliche Erholung in Europa zu beschleunigen. Gleichwohl darf dies nicht zu Lasten der Zukunftsthemen, der Kohäsionspolitik und der weiteren bewährten Politikfelder gehen, deren Mittel zeitlich flexibel einsetzbar sein müssen.
- 6. Das Wiederaufbauinstrument ("Next Generation EU") als gemeinschaftliches Maßnahmenpaket zur Bewältigung der ökonomischen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie muss nach Auffassung des Bundesrates der Größe der Herausforderung angemessen ausgestattet und solidarisch finanziert sein. Hierfür bietet auch der deutschfranzösische Vorschlag vom 18. Mai 2020 eine geeignete Orientierung für die weiteren Verhandlungen. Die Ausgestaltung des Wiederaufbauinstruments muss der unterschiedlichen Betroffenheit und den verschiedenen ökonomischen Ausgangslagen der Mitgliedstaaten und Regionen Rechnung tragen.
- 7. Angesichts der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, reduzierter Einnahmen durch den Brexit und steigender Ausgaben durch die Wahrnehmung neuer Aufgaben, die einen Mehrwert für Europa und seine Mitgliedstaaten schaffen sollen, werden die Beiträge der Mitgliedstaaten in angemessenem, moderatem Umfang steigen müssen. Nur so kann sichergestellt werden, dass neben der Krisenbewältigung wichtige neue Aufgaben der EU in Bereichen wie Migration, Sicherheit, Energie- und Klimapolitik sowie Digitalisierung angemessen erfüllt werden können. Ein stärkeres Europa ist im Interesse Deutschlands.
Ausgaben
- 8. Deutschland hat ein elementares Interesse daran, dass die Volkswirtschaften Europas rasch wieder auf die Beine kommen. Dazu sind außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich. Bei aller Notwendigkeit, schnell und entschieden zu handeln, muss man aber auch der finanzpolitischen Verantwortung für künftige Generationen gerecht werden. Das Wiederaufbauinstrument kann deshalb nur zeitlich befristetet sein - und damit die Antwort auf eine in der Integrationsgeschichte einzigartige, hoffentlich zeitlich begrenzte Herausforderung. Mittel aus dem Fonds sollten nicht den Charakter von allgemeinen Haushaltshilfen haben. Die Mittel sollten zudem an die Bedingung geknüpft sein, von der EU im Rahmen des Europäischen Semesters empfohlene nationale Reformen umzusetzen. Zudem sollte eine vollständige Haushaltskontrolle der eingesetzten EU-Mittel sichergestellt werden.
- 9. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission darin überein, dass der neue EU-Haushalt eine starke konjunkturelle Komponente braucht, die rasch wirkt. Ein separates Wiederaufbauprogramm wie "Next Generation EU" ist eine konsequente Folge dieses Ansatzes.
- 10. Er unterstützt das Ziel der Kommission, den Aufbauprozess dazu zu nutzen, massiv zu investieren und die laut Kommission vorgesehene "doppelte grüne und digitale Wende" deutlich zu beschleunigen. Es ist auch mit Blick auf die exportorientierte Wirtschaft im Interesse Deutschlands, dass alle Mitgliedstaaten die Krise schnell hinter sich lassen.
- 11. Der Bundesrat begrüßt das Bekenntnis zu der hohen Bedeutung der Kohäsionspolitik und der Entwicklung der ländlichen Räume bei der europäischen Antwort auf die Krise. Er betont zugleich, dass der Wiederaufbauplan besonderes Gewicht auf die Förderung von Forschung und Innovation legen muss, denn diese spielen sowohl für die Überwindung der Corona-Pandemie als auch für den europäischen Grünen Deal und die Digitalisierung eine wichtige Rolle.
- 12. Neben der akuten Krisenbewältigung sind nach wie vor bestehende Herausforderungen wie Digitalisierung, demographischer und Strukturwandel und der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zu bewältigen. Daher bedarf es neben der zeitlich begrenzten Krisenhilfe einer angemessenen Ausstattung der Kohäsionspolitik, zu der auch stärker entwickelte Regionen weiterhin in ausreichendem Umfang Zugang haben müssen. Die EU-Fonds EFRE und ESF leisten bereits in der laufenden Förderperiode erhebliche Beiträge zu den Prioritäten der EU, insbesondere zu Innovation und Forschung, zu Bildung und Beschäftigung, zur CO₂-Reduzierung und zur sozialen Integration. Diese Fonds haben den großen Vorteil, dass sie vor Ort in den Regionen und Kommunen wirken. Sie machen Europa und die europäischen Prioritäten und Ziele direkt bei den Menschen sichtbar. Das gilt außerhalb der Kohäsionspolitik auch für den ELER. Eine abschließende Beurteilung der konkreten Förderprogramme wird der Bundesrat in seinen Stellungnahmen zu den geänderten sektoralen Verordnungsvorschlägen vornehmen.
- 13. Zudem sollte auch für die nicht aus dem Wiederaufbauinstrument stammenden Strukturfondsmittel bis zum Abschluss der laufenden Förderperiode die gesetzliche Option der Erhöhung des EU-Kofinanzierungssatzes auf 100 Prozent eingeräumt werden, um Planungssicherheit und höhere Absorptionsmöglichkeiten zu schaffen.
- 14. Der Bundesrat steht der vorgeschlagenen Absenkung der EU-Kofinanzierung für in geteilter Mittelverwaltung umgesetzte Fonds äußerst kritisch gegenüber.
In diesem Zusammenhang erinnert der Bundesrat außerdem an seine Forderung, auch für die kommende EU-Förderperiode angemessene EU-Kofinanzierungssätze beizubehalten und die von der Kommission vorgeschlagene deutliche Absenkung der derzeitigen Kofinanzierungssätze abzumildern (vergleiche BR-Drucksache 167/18(B) (2)). Zudem ist bei der Allokation der EU-Mittel auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und den Regionen zu achten. Diese Forderungen gewinnen angesichts der auf unabsehbare Zeit stark unter Druck geratenen nationalen und regionalen Haushalte nochmals an Bedeutung. Zudem würde die Anhebung der nationalen Kofinanzierungssätze gerade in der aktuellen Situation ein falsches Signal an die Förderempfängerinnen und -empfänger senden und teilweise dringend notwendige Investitionen gefährden.
- 15. Mit Skepsis betrachtet der Bundesrat die beabsichtigte Neuausrichtung der Förderziele der Kohäsionsfonds. Nach Ansicht des Bundesrates müssen Investitionen in den Aufschwung aus einer ganzheitlichen Perspektive heraus erfolgen und dürfen insbesondere auch bestehende Schwerpunktbereiche nicht vernachlässigen. Um Entwicklungen zu Lasten der laufenden und geplanten Projekte vorzubeugen, bittet der Bundesrat die Bundesregierung, die weitere inhaltliche Ausrichtung im Verhandlungsverlauf eng zu begleiten.
- 16. Die Auswirkungen der Coronakrise auf die Umsetzung der aktuell laufenden Strukturfondsprogramme sind umfassend und grundlegend.
Der Bundesrat sieht die Abschaffung der sogenannten "n+3"-Regelung und die anstelle dessen vorgeschlagene Einführung einer "n+2"-Regelung (das heißt Einsatz der jährlichen Tranchen binnen zwei Jahren statt bisher drei Jahren) kritisch. Insbesondere in der jetzigen Zeit, in welcher laufende Projekte aufgrund der Covid-19-Krise unterbrochen werden mussten und neue Projekte erst verspätet starten können, würde die "n+2"-Regelung einen starken administrativen Druck für die Programmumsetzung bedeuten und für die Regionen schlimmstenfalls zum Verfall der Mittel statt zu einer zügigen Umsetzung führen.
Deshalb sollte die Förderperiode um zwei Jahre verlängert und für die Programmjahre 2017 bis 2020 die Frist für die Aufhebung der Mittelbindung (n+3) auf fünf Jahre ausgeweitet werden.
- 17. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission sich im Rahmen ihres ursprünglichen Vorschlags für einen MFR 2021 bis 2027 bereits das Ziel der Schaffung eines flexibleren, agileren Haushalts gesetzt hat. Die aktuelle Coronakrise zeigt deutlich, dass die EU in der Lage sein muss, auf unerwartete Entwicklungen rasch und wirksam zu reagieren. Die Neugestaltung bestehender Flexibilitäts- und Krisenmanagementinstrumente sowie die gesteigerte Flexibilität innerhalb und zwischen den Programmen sind dabei ein Schritt in die richtige Richtung, um regionale Gegebenheiten und Interessen angemessen berücksichtigen zu können.
- 18. Der Bundesrat erkennt die Notwendigkeit der Schaffung neuer Fonds und Fazilitäten mit eigenem Regelwerk und eigenen Verteilkriterien als Reaktion auf die Folgen der Covid-19-Pandemie an. Allerdings sollte dies dem übergreifenden Ziel der weiteren Vereinfachung des EU-Haushaltes nicht zuwiderlaufen und strengen Transparenzkriterien genügen.
- 19. Er teilt die Auffassung der Kommission, dass die Achtung der Rechtsstaatlichkeit eine unverzichtbare Voraussetzung für die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung und eine wirksame EU-Finanzierung ist. Er begrüßt die Absicht der Kommission, die finanziellen Interessen der EU effektiver zu schützen und insbesondere die Betrugs- und Korruptionsbekämpfung in den Mitgliedstaaten zu verschärfen.
Einnahmen
- 20. Der Bundesrat begrüßt ein transparentes und gerechtes Eigenmittelsystem der EU, bei dem die Bruttonationaleinkommen (BNE-Eigenmittel) weiterhin im Zentrum der Einnahmenseite des EU-Haushalts stehen sollen. Dem Ziel eines einfacheren, gerechteren und transparenteren Finanzierungssystems würde man auch mit der Abschaffung der auf der Mehrwertsteuer basierenden Eigenmittel näherkommen.
- 21. Er begrüßt ferner den Vorschlag der Kommission, alle bisherigen mitgliedstaatsbezogenen Rabatte abzuschaffen, um letztlich zu einem transparenten System zu gelangen, in welchem die Mitgliedsbeiträge vergleichbar sind. Eine schrittweise Abschaffung der Rabatte unter den jetzigen Umständen würde angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie für manche Mitgliedstaaten jedoch zu unverhältnismäßigen Erhöhungen ihrer Beiträge für den Zeitraum 2021 bis 2027 führen. Der Vorschlag der Kommission, dies zu vermeiden, indem die derzeitigen Rabatte über einen viel längeren Zeitraum abgeschafft werden, als die Kommission in ihrem Vorschlag von 2018 vorgesehen hatte, ist der aktuellen Situation grundsätzlich angemessen. Der Bundesrat verweist jedoch darauf, dass mittel- und langfristig an Stelle der Rabatte ein allgemeiner Korrekturmechanismus, der allen durch ihre Nettobeiträge außergewöhnlich hoch belasteten Mitgliedstaaten zugutekommt und Sonderregelungen zu Gunsten einzelner Mitgliedstaaten überflüssig macht, vorzugswürdig wäre (vergleiche BR-Drucksache 521/16(B) ).
Verfahren
- 22. Bei den Verhandlungen zum MFR für die Jahre 2021 bis 2027 konnte bislang keine Einigung erzielt werden.
Der Bundesrat ruft zu einem zügigen Abschluss der Verhandlungen über den nächsten MFR auf der Grundlage der nun vorgelegten Vorschläge der Kommission auf. Es sollte alles dafür getan werden, um einen möglichst reibungslosen Übergang von den Programmen der aktuellen zu denen der neuen Förderperiode zu gewährleisten.
- 23. Er sieht deshalb mit Sorge, dass die für einen reibungslosen Übergang zur neuen Förderperiode nötige Planungssicherheit nicht gegeben sein wird. Fehlende Rechtssicherheit zu Beginn der neuen Förderperiode kann das Vertrauen der Förderempfängerinnen und -empfänger in die EU empfindlich stören. Schlimmstenfalls werden Projekte erst gar nicht beantragt. Dies ist insbesondere im Bereich Forschung und Entwicklung in Anbetracht der aktuellen Herausforderungen zur Einhaltung der Klimaziele ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Sollten die MFR-Verhandlungen bis zum Beginn der neuen Förderperiode ab 1. Januar 2021 nicht zu einem Ergebnis kommen, müssen zeitnah Übergangslösungen vereinbart werden.
- 24. Im Übrigen wird auf die Stellungnahme des Bundesrates vom 6. Juli 2018 zu den Vorschlägen für den MFR 2021 bis 2027 (vergleiche BR-Drucksache 166/18(B) und BR-Drucksache 167/18(B) (2)) verwiesen.
- 25. Die Bundesregierung wird gebeten, die Länder auf Fachebene an den anstehenden Beratungen auf europäischer Ebene - insbesondere im Hinblick auf die anstehende deutsche Ratspräsidentschaft - zu beteiligen.
II. Zu BR-Drucksache 295/20 (PDF)
- 26. Der Bundesrat unterstützt die Kommission in ihrer Haltung, dass es von wesentlicher Bedeutung ist, mit den neuen vorgeschlagenen Instrumenten "Next Generation EU" die wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit in der EU voranzutreiben und öffentliche Investitionen in den Wiederaufbau unter dem grünen Credo "keinen Schaden anrichten" anzustoßen.
- 27. Er mahnt an, das Ziel und den Prozess des Strukturwandels zu einer grünen und digitalen Wirtschaft auch in den weniger stark von COVID-19 betroffenen Regionen Europas kurzfristig nicht aus den Augen zu verlieren. Es muss daher sichergestellt werden, dass auch für Deutschland in angemessenem Umfang Mittel zur Übergangsfinanzierung der laufenden EFRE-Programme bereitgestellt werden.
- 28. Die bestehende Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass im Interesse der Gesundheit aller Unionsbürgerinnen und Unionsbürger Maßnahmen mit dem Ziel einer krisenresistenten Versorgung mit grundlegenden Arzneimitteln in der EU getroffen werden sollten.
- 29. In diesem Zusammenhang begrüßt der Bundesrat die Ankündigung einer Förderung des Aufbaus zusätzlicher pharmazeutischer Fertigungs- und Produktionskapazitäten in Europa. Diese Ergänzung der bislang von globalen Strukturen geprägten Arzneimittelproduktion wird absehbar zur Vermeidung von Lieferengpässen beitragen. Laut Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat die Union die Kompetenz zur Koordinierung des Agierens der Mitgliedstaaten. Eine Förderung des Aufbaus von Produktionskapazitäten kann zudem auf Unionsebene effektiv verwirklicht werden.
- 30. Der Bundesrat sieht jedoch mit Sorge, dass der Wortlaut des Punktes 5.2 der Europäischen Arzneimittel-Agentur Kompetenzen bei der Überwachung von Herstellung und Vertrieb von Arzneimitteln zuweist. Überwachungstätigkeiten im Hinblick auf Herstellungs- und Vertriebstätigkeiten der pharmazeutischen Industrie liegen nach dem Grundgesetz in der Kompetenz der Länder. Die Verträge stehen dazu nicht im Widerspruch. Laut Artikel 168 AEUV ist der Union die Kompetenz zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel übertragen worden; folgerichtig belässt Unionsrecht - im Wesentlichen die Verordnung 726/2004 /EG und die Richtlinie 2001/83/EG - Überwachungstätigkeiten explizit in der Verantwortung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Eine mit diesem Vorschlag im Raum stehende Überwachungskompetenz der Agentur widerspräche insoweit dem Subsidiaritätsprinzip und käme im Ergebnis einer durch das Grundgesetz ausgeschlossenen behördlichen Mischverwaltung gleich.
- 31. Zudem ist festzuhalten, dass eine Überwachung von Herstellung und Vertrieb bestimmter Arzneimittel per se nicht geeignet ist, eine ausreichende Versorgung sicherzustellen. Europäisches bzw. nationales Arzneimittelrecht dienen, wie bereits unter Ziffer 49 ausgeführt, der Sicherheit und Qualität der im Markt verfügbaren Arzneimittel. Die Verfügbarkeit selbst ist jedoch eine Folge des Marktgeschehens und unternehmerischer Entscheidungen. Im Ergebnis ist die als "Stärkung" bezeichnete Kompetenzerweiterung der Agentur von den Verträgen nicht gedeckt und als Maßnahme nicht geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen.