Der Bundesrat hat in seiner 876. Sitzung am 5. November 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass es sich bei der Mitteilung "Jugend in Bewegung" um einen Rahmenplan der Kommission handelt, um neue Maßnahmen anzukündigen und bestehende Maßnahmen zu intensivieren. Durch die Auflistung von geplanten Initiativen und Instrumenten erhält die Mitteilung den Charakter eines umfassenden Arbeitsprogramms der Kommission für den Bildungs-, Jugend- und Beschäftigungsbereich. Auf Grund der knappen und überwiegend oberflächlichen Darstellung bleibt für eine fundierte und detaillierte Bewertung der Kommissionsvorschläge im Bildungsbereich die Veröffentlichung der Mitteilungen abzuwarten, die zur Konkretisierung der einzelnen Maßnahmen bereits namentlich angekündigt sind.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass sich aus einer Gesamtschau der angekündigten Initiativen schon jetzt eine engere Verschränkung des Bildungsbereichs mit der Beschäftigungspolitik abzeichnet. Zwar teilt der Bundesrat die Auffassung der Kommission, dass auf europäischer Ebene grundsätzlich eine Verbesserung der Schnittstellen des Bildungsbereichs mit anderen relevanten Politikbereichen wünschenswert ist. Er bedauert aber zum wiederholten Male, dass die Kommission die EU-Bildungskooperation, die über eine eigene Rechtsgrundlage im Vertrag verfügt, offenbar zunehmend als integrierten Politikbereich sehen möchte, und warnt erneut davor, über die starke Verschränkung der EU-Bildungskooperation mit der gemeinschaftlichen Beschäftigungspolitik die Unionskompetenz auf den Bildungsbereich auszudehnen.
- 3. Die Kommission hält zu Recht fest, dass die neuen integrierten Leitlinien (insbesondere für den Bereich Beschäftigung) den Rahmen für die koordinierten Politikmaßnahmen vorgeben, von denen die meisten in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen (insbesondere die Bildungspolitik). Soweit die Kommission deshalb die Überwachung der Mitgliedstaaten bei der Planung und Umsetzung der in der Mitteilung vorgeschlagenen Maßnahmen ankündigt, sieht der Bundesrat hier einen Eingriff in das Kompetenzgefüge der EU-Verträge.
Der Bundesrat warnt nicht zuletzt in diesem Zusammenhang erneut davor, dass eine unzulässige Ausweitung der Unionskompetenzen im Bildungsbereich die Kulturhoheit der deutschen Länder unterwandert und das Subsidiaritätsprinzip missachtet vgl. BR-Drucksache 113/10(B) (2) -.
- 4. Der Bundesrat sieht zudem die Tendenz unter zunehmender Akzentuierung der bloßen Beschäftigungsfähigkeit des Individuums den von den deutschen Bildungseinrichtungen verfolgten ganzheitlichen Bildungsanspruch auf europäischer Ebene zu verfehlen vgl. BR-Drucksache 026/09(B) -.
- 5. Der Bundesrat erinnert daran, dass die EU-Bildungsminister am 12. Mai 2009 Ratsschlussfolgerungen zu einem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung ("ET 2020") angenommen und dadurch die Grundzüge der europäischen Bildungskooperation bis zum Jahr 2020 beschlossen haben. Mit diesem Rahmen haben sich die EU-Bildungsminister nicht nur auf die strategischen Ziele und Prioritäten, sondern auch auf die Grundsätze und Arbeitsmethoden der europäischen Bildungskooperation geeinigt. Der Bundesrat hält es deshalb für zwingend erforderlich, dass sich die Ausgestaltung der EU-Leitinitiative "Jugend in Bewegung" im Bildungsbereich sowohl hinsichtlich der Inhalte als auch in Bezug auf die Prinzipien der Zusammenarbeit innerhalb des von den EU-Bildungsministern erst im letzten Jahr geschaffenen Rahmens vollzieht. Entsprechendes gilt für den Jugendbereich im Hinblick auf die ebenfalls im Jahr 2009 angenommene Entschließung des Rates über einen erneuerten Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa (2010 bis 2018).
- 6. Soweit die Kommission ankündigt, die Mitgliedstaaten bei der Planung und Umsetzung der Maßnahmen insbesondere durch Förderung von "Peer Review"- Aktivitäten zu unterstützen, bekräftigt der Bundesrat seine kritische Haltung zur Durchführung derartiger Maßnahmen im Rahmen der EU-Bildungskooperation vgl. BR-Drucksache 026/09(B) -. In diesem Zusammenhang verweist der Bundesrat auf den strategischen Rahmen "ET 2020", in dem bewusst von der Aufnahme von "Peer Reviews" Abstand genommen wurde und stattdessen im Hinblick auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre Bildungssysteme und die Freiwilligkeit der europäischen Bildungskooperation ausschließlich die Durchführung von "Peer-Learning"-Aktivitäten vorgesehen ist. Überwachungs- und Kontrollmechanismen wie "Peer Reviews" oder der von der Kommission vorgeschlagene "Mobilitätsanzeiger" sind nach Auffassung des Bundesrates geeignet, die Bildungshoheit der Mitgliedstaaten zu untergraben.
- 7. Im Hinblick auf die Ratsschlussfolgerungen vom 2 1. November 2008 zur Mobilität junger Menschen, wonach Lernphasen im Ausland für alle jungen Menschen in Europa allmählich die Regel werden sollen, begrüßt der Bundesrat die vielfältigen Aktionen der EU zur Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität zu Lernzwecken. Er unterstützt deshalb grundsätzlich das Ziel der Initiative, bis zum Jahr 2020 allen jungen Menschen in Europa die Möglichkeit zu geben, einen Teil ihrer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat zu absolvieren, betont aber zugleich, dass insoweit Möglichkeiten geschaffen, aber keine Verpflichtungen begründet werden können. Soweit die Kommission herausstellt, dass die Mobilität zu Lernzwecken wesentlich zur Europäisierung der Bildungssysteme beigetragen hat, weist der Bundesrat mit Nachdruck darauf hin, dass dies im Hinblick auf das Kompetenzgefüge der EU-Verträge und das für den Bildungsbereich geltende Harmonisierungsverbot nicht Ziel der europäischen Bildungskooperation im Allgemeinen und der Mobilitätsförderung im Besonderen sein kann.
- 8. Der Bundesrat begegnet der Ankündigung der Kommission, für die EU-Bildungsprogramme ein stärker integriertes Konzept auszuarbeiten, um die Zielsetzungen von "Jugend in Bewegung" zu fördern, mit großer Zurückhaltung. Da sich aus Sicht des Bundesrates das Programm für Lebenslanges Lernen als Instrument zur Förderung der Mobilität junger Menschen bewährt hat, spricht er sich stattdessen dafür aus, dieses Programm auch im Rahmen des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens in seiner derzeitigen bewährten Grundstruktur fortzuführen und nur in einzelnen Programmteilen weiterzuentwickeln. Soweit die Kommission in diesem Zusammenhang eine bessere Ausschöpfung des Europäischen Sozialfonds (ESF) anmahnt, gibt der Bundesrat zu bedenken, dass der Fokus des ESF auf der Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit liegt, die als primäres Ziel der Mobilität zu Lernzwecken vom Bundesrat abgelehnt wird.
- 9. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass das Lernen am Arbeitsplatz in Form einer betrieblichen Ausbildung ein äußerst wirksames Mittel ist, um junge Menschen allmählich in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Er ist deshalb der Überzeugung, dass die in Deutschland tief verwurzelte und weltweit anerkannte duale Berufsausbildung ebenso wie das allgemein sehr differenzierte und qualitativ hochwertige System der beruflichen Bildung in Deutschland als bewährtes Verfahren in einen vertieften Informations- und Erfahrungsaustausch der Mitgliedstaaten eingebracht werden sollte.
- 10. Der Bundesrat weiß um die Bedeutung des freien Personenverkehrs, sieht in der Förderung der Beschäftigungsmobilität jedoch die Gefahr, dass somit die Abwanderung von Fachkräften aus strukturschwachen Regionen gerade gefördert wird.
Angesichts der angespannten Situation der öffentlichen Haushalte erkennt der Bundesrat auch keine Spielräume bei den Mitgliedstaaten, die üblicherweise vom Arbeitgeber getragene finanzielle Unterstützung zur Deckung der mit dem Umzug verbundenen Kosten auch nur teilweise zu übernehmen.
- 11. Der Bundesrat erinnert daran, dass auch die Debatte um die Initiative "Jugend in Bewegung" unmittelbar mit der anstehenden Überprüfung des europäischen Finanzsystems zusammenhängt. Die finanzielle Ausstattung der einzelnen Maßnahmen steht daher unter dem Vorbehalt der Verabschiedung des neuen Finanzrahmens für die Zeit nach 2013.
- 12. Der Bundesrat unterstützt die Kommission grundsätzlich in ihrem Vorhaben, das Potenzial der EU-Finanzierungsprogramme voll auszuschöpfen.
Den von der Kommission geforderten verstärkten Einsatz von nationalen und regionalen Finanzmitteln lehnt der Bundesrat angesichts der angespannten Lage der öffentlichen Haushalte jedoch ab, weil dies dem auch von der Kommission anerkannten Erfordernis nach Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und Haushalte widerspricht.
- 13. Hinsichtlich der Forderung der Kommission, die EU-Förderung der Mobilität zu Lernzwecken mit nationalen und regionalen Mitteln zu kombinieren, erinnert der Bundesrat auch daran, dass er die Verknüpfung von europäischen Programmen im Bereich Mobilität nicht als geeignetes Mittel ansieht, den wettbewerblichen Ansatz zur Entwicklung von innovativen Instrumenten der Politikgestaltung zu befördern vgl. BR-Drucksache 113/10(B) -.
- 14. Auch der Bundesrat misst der Verbesserung der Chancen junger Menschen in Bildung und Beschäftigung einen hohen Stellenwert bei. Angesichts knapper werdender Finanzmittel weist er allerdings darauf hin, dass sich die mit der Initiative verfolgten Ziele nicht vornehmlich an der quantitativen Verwendung von Haushaltsmitteln orientieren sollten.
- 15. Soweit die Kommission es für notwendig hält, Finanzmittel aus vielen Quellen zusammenzuführen, damit die erforderliche kritische Masse erreicht wird, weist der Bundesrat erneut darauf hin, dass durch eine Vereinigung der Finanzierungsmöglichkeiten der Grundstock der Mittel nicht anwachsen wird, weshalb er vor allem auf einen qualitativen Ausbau der vorhandenen Programme setzt - - vgl. BR-Drucksache 656/09(B) -.
- 16. Entscheidend sind vielmehr die Art und Qualität der eingesetzten Instrumente. Auch sollte die EU als Rechtsgemeinschaft ihre Ziele im Rahmen ihrer Kompetenzen grundsätzlich eher mit Rechts- als mit Finanzinstrumenten verfolgen vgl. BR-Drucksache 113/10(B) -.
Dies betrifft insbesondere die Forderung der Kommission, in höherem Maße in die allgemeine und berufliche Bildung zu investieren, wie auch die Forderung nach Bereitstellung von finanziellen Mitteln für beschäftigungspolitische Maßnahmen.
- 17. Der im Zusammenhang mit der Steigerung der Attraktivität der Hochschulbildung von der Kommission geforderten Gesamtinvestition in das Hochschulsystem von mindestens 2 Prozent des BIP steht der Bundesrat kritisch gegenüber. Insbesondere die Frage, ob und in welchem Umfang die Mitgliedstaaten Finanzmittel für das Hochschulwesen bereitstellen, ist Teil der alleinigen Bildungsverantwortung der Mitgliedstaaten nach den Artikeln 165 und 166 AEUV. Soweit die Kommission zudem fordert, dass die Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen zur Modernisierung der Hochschulbildung im Bereich Finanzierung intensivieren, macht der Bundesrat erneut deutlich, dass das deutsche Hochschulrecht seinen Universitäten Autonomie und Selbststeuerung auch im Bereich Finanzen ermöglicht. Die Hochschulen haben die Möglichkeit, ihre Mittel im Rahmen der Selbstverwaltung autonom einzusetzen; dabei bedienen sie sich bereits jetzt moderner Managementmethoden vgl. BR-Drucksache 350/06(B) -.
- 18. Hinsichtlich des von der Kommission abgesteckten Rahmens für die Jugendbeschäftigung befürwortet auch der Bundesrat die Einbeziehung benachteiligter Personengruppen.
Im Hinblick auf den Vorschlag der Kommission, dass die öffentlichen Arbeitsverwaltungen bei der Förderung und Koordinierung der einschlägigen Maßnahmen eine tragende Rolle übernehmen sollen, gibt der Bundesrat allerdings zu bedenken, dass eine derartige Aufgabenerweiterung nicht zu einer Belastung der öffentlichen Haushalte (etwa durch eine dann erforderliche Personalaufstockung) führen darf.
Ebenso bewertet der Bundesrat das PROGRESS-Mikrofinanzierunginstrument kritisch. Aufgrund der geringen Mittelausstattung dieses Instruments sind messbare Effekte auf makroökonomische Indikatoren in den Mitgliedstaaten nicht zu erwarten. Zugleich entstehen den Mitgliedstaaten zusätzliche Bürokratiekosten, weil Verwaltungsstrukturen und -verfahren für dieses Instrument erst zu schaffen sind. Vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Strukturfonds oder nationalen Mittel zur Schaffung von Mikrofinanzangeboten erscheint das PROGRESS-Mikrofinanzierunginstrument deshalb nicht angemessen.
Bedenken hat der Bundesrat auch hinsichtlich der vorgeschlagenen Einführung eines Mindestlohns. Der Bundesrat sieht zum einen die Wirkung dieser Maßnahme auf das Beschäftigungsniveau nicht ausreichend gesichert, zum anderen die Gefahr der Schwächung der Tarifautonomie.
Ebenso kritisch steht der Bundesrat speziell abgestuften Lohnnebenkosten gegenüber, die zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme gehen.
- 19. Auch der Forderung der Kommission nach Einführung einer Studiendarlehensfazilität steht der Bundesrat kritisch gegenüber. Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass schon jetzt Auslandsaufenthalte finanziell unterstützt werden. Vorrangig gilt es deshalb, durch sozial-, steuer-, aufenthalts- und versorgungsrechtliche Regelungen bedingte Hindernisse zu beseitigen vgl. BR-Drucksache 350/06(B) -.