Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Mainz, den 6. Juli 2010
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Bürgermeister Jens Böhrnsen
Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierung von Rheinland-Pfalz hat beschlossen, beim Bundesrat den in der Anlage beigefügten Antrag für eine
- Entschließung des Bundesrates zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie
einzubringen.
Ich bitte Sie, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 873. Sitzung des Bundesrates am 9. Juli 2010 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuleiten.
Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck
Entschließung des Bundesrates zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie
Der Bundesrat möge beschließen:
- 1. Der Bundesrat stellt fest, dass die Tarifautonomie eine wesentliche Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft ist und sich in den letzten Jahrzehnten nachhaltig bewährt hat. Die Tarif- und Betriebspartner haben das gerade in der Krise erneut unter Beweis gestellt.
- 2. Die Tarifeinheit ist eine unverzichtbare Säule der Tarifautonomie. Sie verhindert eine Zersplitterung des Tarifvertragssystems, eine Spaltung der Belegschaften und eine Vervielfachung kollektiver Konflikte. Es muss in den Betrieben für alle Beteiligten klar sein, welcher Tarifvertrag gilt.
- 3. Die Verantwortung der Tarifvertragsparteien macht es notwendig, die Gesamtheit der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen in den Betrieben zu berücksichtigen. Die Interessen der Gesamtbelegschaften dürfen nicht von Einzelinteressen verdrängt werden. Tarif- und Betriebspartnerschaft kann nur funktionieren, wenn sie von dem gemeinsamen Willen zur Regelung der Arbeitsbedingungen getragen ist.
- 4. Das Bundesarbeitsgericht hatte in der bisherigen Rechtsprechung den Grundsatz der Tarifeinheit und die Nichtanwendbarkeit nachrangiger Tarifverträge im Ergebnis zu Recht damit begründet, dass nur so eine ordnungsgemäße Tarifanwendung sichergestellt und Abgrenzungsprobleme zwischen unterschiedlichen Tarifnormen im Betrieb vermieden werden. Die Tarifeinheit dient einer wichtigen Funktion der Koalitionsfreiheit und des Tarifvertragssystems, nämlich die Arbeitsbeziehungen zu befrieden.
- 5.
Der Bundesrat hat die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Januar 2010 und vom 23. Juni 2010 zur Kenntnis genommen, dass der Grundsatz der Tarifeinheit bei Tarifpluralität künftig nicht mehr gilt.
- 6. Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesrat in Übereinstimmung mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) die Bundesregierung auf, im bestehenden Tarifvertragsgesetz den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb wie folgt gesetzlich zu normieren:
- Überschneiden sich in einem Betrieb die Geltungsbereiche mehrerer Tarifverträge, die von unterschiedlichen Gewerkschaften geschlossen werden (konkurrierende Tarifverträge/Tarifpluralität), so ist nur der Tarifvertrag anwendbar, an den die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb gebunden ist. Maßgeblich ist bei solchen sich überschneidenden Tarifverträgen folglich, welche der konkurrierenden Gewerkschaften im Betrieb mehr Mitglieder hat (Grundsatz der Repräsentativität). Treffen demnach z.B. zwei Entgelt-Tarifverträge zusammen, die das Entgelt zumindest teilweise gleicher Arbeitnehmergruppen regeln, gilt im Betrieb der Tarifvertrag, an den die größere Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern gebunden ist.
Für die Laufzeit des nach diesem Grundsatz im Betrieb anwendbaren Tarifvertrages gilt - ebenfalls wie bisher - die Friedenspflicht. Diese wird durch die gesetzliche Regelung auch auf überschneidende Tarifverträge erstreckt, die nach der vorstehenden Regelung nicht zur Geltung kommen könnten. Die Friedenspflicht gilt damit während der Laufzeit des vorrangigen Tarifvertrages auch gegenüber anderen Gewerkschaften. Wenn z.B. eine Gewerkschaft für eine Berufsgruppe einen Entgelt-Tarifvertrag verlangt, obwohl für diese Arbeitnehmer ein Tarifvertrag der repräsentativeren Gewerkschaft gilt, so besteht auch gegenüber der Spartengewerkschaft die Friedenspflicht für die Laufzeit des bestehenden Tarifvertrages. Arbeitskämpfe um solche Tarifverträge durch eine im Betrieb nicht repräsentative Gewerkschaft sind daher während der Laufzeit eines vorrangigen Tarifvertrages regelmäßig unzulässig.
- 7. Mit der vorgeschlagenen gesetzlichen Regelung wird der von der bisherigen Rechtsprechung entwickelte Grundsatz der Tarifeinheit beibehalten. Wie bisher bedeutet Tarifeinheit nicht ein Monopol für bestimmte Tarifvertragsparteien. Die gesetzliche Regelung schafft aber Rechtsklarheit für den Fall einer Kollision unterschiedlicher Tarifverträge.
Es bleibt deshalb auch wie bisher möglich, dass sich verschiedene Tarifparteien darauf verständigen, in einem Betrieb unterschiedliche Tarifverträge für unterschiedliche Arbeitnehmergruppen zu vereinbaren (vereinbarte Tarifpluralität). Gilt z.B. ein Entgelt-Tarifvertrag für einen bestimmten Teil der Belegschaft und ein weiterer Entgelt-Tarifvertrag für eine andere Arbeitnehmergruppe des Betriebes, ohne dass sich beide Arbeitnehmergruppen überschneiden, bleiben beide Tarifverträge nebeneinander anwendbar. Es liegt keine Tarifkollision vor. Das vereinbarte Nebeneinander unterschiedlicher Tarifverträge mit unterschiedlichen persönlichen Geltungsbereichen wird durch die vorgeschlagene Regelung nicht angetastet.
Eine entsprechende gesetzliche Regelung schließt daher Wettbewerb zwischen Gewerkschaften (einschl. Spartengewerkschaften) nicht aus. Die im Betrieb mitgliederstärkere Gewerkschaft kann allerdings einen vorrangigen Tarifvertrag vereinbaren, während dessen Laufzeit insoweit Friedenspflicht für alle im Betrieb gilt. Damit schafft die Regelung Klarheit, welcher Tarifvertrag im Betrieb anzuwenden ist und wahrt die von den Tarifverträgen ausgehende Friedenspflicht. Sie gewährleistet das bestehende System der Tarifverträge und sichert die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.