Der Bundesrat hat in seiner 866. Sitzung am 12. Februar 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das mit dem Grünbuch verfolgte grundsätzliche Anliegen, die strafrechtliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU effektiver zu gestalten.
- 2. Allerdings steht der Bundesrat den konkreten Vorschlägen der Kommission zur Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedstaat auf weiten Strecken kritisch gegenüber.
- 3. Das Grünbuch wurde zu früh vorgelegt und vergibt die Chance, Praxiserfahrungen zum Beispiel im Bereich der Rechtshilfe in seine Überlegungen mit aufzunehmen. Es wirkt befremdlich, dass durch das Grünbuch bereits Schritte zur Umsetzung des "Stockholmer Programms" vorgeschlagen werden, bevor dieses vom Rat überhaupt angenommen wurde. Die Annahme des Programms durch den Rat stand bei Vorlage des Grünbuchs noch aus.
Die Stellungnahmefrist ist für einen föderal verfassten Staat wie Deutschland zu kurz für eine der Bedeutung der Sache angemessene Beantwortung.
- 4. Vor Ankündigung einer neuen, umfassenderen Europäischen Beweisanordnung sollte der Bedarf eines solchen neuen Rechtsinstruments im Hinblick auf den aktuellen Rahmenbeschluss zur Europäischen Beweisanordnung (Rahmenbeschluss 2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen, ABl. L 350 vom 30. Dezember 2008, S. 72), der erst bis Januar 2011 umzusetzen ist, gründlich geprüft und geklärt werden, ob es einen Mehrwert gegenüber den traditionellen Instrumenten der Rechtshilfe bringt. Der Bundesrat verweist in diesem Zusammenhang auf die am 10./11. Dezember 2009 beschlossene Fassung des Stockholmer Programms. Dort wird unter Punkt 1.2.2 betont, dass in den nächsten Jahren besondere Aufmerksamkeit der Implementierung, Durchsetzung und Evaluierung der bestehenden Instrumente Europäischer Zusammenarbeit im Strafrechtsbereich gewidmet werden soll. Dem wirkt das Anliegen des Grünbuchs entgegen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass vor einer Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung bereits über weitergehende Regelungen nachgedacht wird.
- 5. Gegen die angestrebte Harmonisierung des Strafverfahrensrechts bestehen durchgreifende Bedenken.
Das Grünbuch sieht vor, ein neues, einheitliches Rechtsinstrument für die Beweiserhebung in einem anderen Mitgliedstaat zu schaffen und dies mit dem Erlass gemeinsamer Normen für die Beweiserhebung zu verbinden. Die Zielsetzung der Kommission geht ferner dahin, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung über verfahrensabschließende Entscheidungen (Urteile) und isolierte Verfahrensentscheidungen (Haftbefehl) hinaus auch auf die Anordnung von Beweiserhebungen zu erstrecken. Sollte diese Absicht künftig Gegenstand eines legislativen Vorschlags werden, wäre eine solche Regelung, insbesondere unter dem Aspekt, dass diese in letzter Konsequenz zu einer Harmonisierung des Beweisrechts führen würde, am Subsidiaritätsprinzip gemessen sehr kritisch zu betrachten.
Die Kompetenzen der Union zum Erlass von Richtlinien für das Strafverfahrensrecht, insbesondere für die Zulässigkeit von Beweismitteln, beschränken sich auf Mindestvorschriften (Artikel 82 Absatz 2 AEUV). Es wäre von dieser Kompetenz nicht gedeckt, das gesamte, hochentwickelte und ausdifferenzierte System des nationalen Beweisrechts zum Gegenstand einer europarechtlichen Regelung zu machen.
Vorhandene Instrumente wie die Rechtshilfe sind dabei im Allgemeinen nicht rechtlich unzulänglich, sondern scheitern in der Praxis an der fehlenden Bereitschaft einzelner Staaten zur zügigen Bearbeitung entsprechender Ersuchen. Darauf wird im Grünbuch nicht eingegangen.
- 6. Das Strafverfahrensrecht wird in besonderem Maß durch unterschiedliche Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten bestimmt, was in Artikel 82 Absatz 2 AEUV grundsätzlich auch anerkannt wird. Regelungen zur Beweiserhebung und zur Beweisverwertung sind daher in einer Gesamtbetrachtung des nationalen Verfahrensrechts zu würdigen, das jeweils eigene Wege zur Sicherung der betroffenen Rechtspositionen geht. Weitreichenden Abhörrechten der Strafverfolgungsbehörden können in einer Rechtsordnung z.B. umfangreiche Zeugnisverweigerungsrechte gegenüberstehen. Dieses Gleichgewicht würde gestört, wenn umfangreichen Abhörmöglichkeiten nur noch minimale Zeugnisverweigerungsrechte als Mindeststandards gegenüberstünden.
Die vorgeschlagenen Schritte bieten keine ausreichende Gewähr dafür, dass diese Gesamtbetrachtung in ausreichendem Maß geschützt wird.
Es bestehen zwar europaweite Grundstandards, die insbesondere durch die Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in allen EU-Mitgliedstaaten gewährleistet sind, wie etwa das Folterverbot aus Artikel 3 EMRK. Doch wurden schon die verschiedenen Zusatzprotokolle zur EMRK nicht von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert. Auch in der Vergangenheit wurden auf europäischer Ebene keine Mindeststandards erreicht, die den besonders grundrechtsintensiven Bereich des deutschen Strafverfahrens entsprechend widerspiegeln.
Beispielhaft für einen besonders hohen Standard sind die grundrechtlich fundierten Beschränkungen der akustischen Wohnraumüberwachung ("großer Lauschangriff"). In Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (BVerfGE 109, 279) sieht das deutsche Strafverfahrensrecht hier erhebliche Einschränkungen und Anforderungen zum Schutz des unantastbaren Kerns privater Lebensgestaltung vor. § 100c StPO stellt nicht nur strenge Anforderungen an die Schwere der zu ermittelnden Tat und die Erforderlichkeit der Maßnahme, sondern verbietet das Abhören und Aufzeichnen von Äußerungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind. Flankiert wird dies in § 100d StPO durch einen strengen Richtervorbehalt (d. h. ohne Eilzuständigkeit der Staatsanwaltschaft und regelmäßige Anordnung durch einen Spruchkörper), Befristung der Anordnung, Benachrichtigungspflichten, (nachträglichen) Rechtsschutz und Datenschutzregelungen. In diesem Bereich geht das deutsche Recht über europaweite Standards hinaus. Einen derart qualifizierten Richtervorbehalt sieht weder die "Achtung der Wohnung" nach Artikel 8 Absatz 1 EMRK vor noch ist er notwendiger Bestandteil jedes Rechtsstaates oder als Teil der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der EU-Mitgliedstaaten Bestandteil des Gemeinschaftsrechts nach Artikel 6 Absatz 3 EUV.
Unterschiedliche Rechtstraditionen gibt es aber auch im Beweisrecht, z.B. bei der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, der Zulässigkeit der Einführung von Vernehmungsprotokollen aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung oder bei der Rolle von Sachverständigen im Verfahren (Beauftragung eines Sachverständigen durch das Gericht versus Einführung als sachverständiger Zeuge durch Anklage oder Verteidigung).
Unterschiedliche Rechtstraditionen gibt es zudem bei den Regelungen zur Telekommunikationsüberwachung. So ist z.B. die Telekommunikationsüberwachung in Deutschland nach § 100a StPO nur beim Verdacht bestimmter Katalog-Straftaten zulässig. In Spanien dagegen ist sie grundsätzlich bei jeder Straftat zulässig, wenn sie richterlich angeordnet wurde.
Letztlich sind die besondere Stellung des unabhängigen Richters und die damit zusammenhängenden Richtervorbehalte für bestimmte Beweiserhebungen zu nennen. Dagegen sieht z.B. Artikel 2 Buchstabe c des Rahmenbeschlusses über die Europäische Beweisanordnung vor, dass je nach innerstaatlichem Recht eine solche Beweisanordnung auch durch Staatsanwälte ergehen kann.
- 7. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.