Der Bundesrat hat in seiner 841. Sitzung am 15. Februar 2008 beschlossen, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Abs. 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt nachdrücklich, dass sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten auf einen Vertrag zur Änderung der bestehenden Verträge (= Vertrag von Lissabon) geeinigt und diesen Vertrag am 13. Dezember 2007 in der portugiesischen Hauptstadt feierlich unterzeichnet haben. Das ist ein großer Erfolg für Europa. Mit diesem Vertrag wird die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt und die EU demokratischer, transparenter und bürgernäher gestaltet.
Der Bundesrat würdigt den wichtigen Beitrag der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 für den raschen und erfolgreichen Abschluss der Regierungskonferenz 2007 zur Fortführung der EU-Vertragsreform. Mit dem bei der Tagung des Europäischen Rates im Juni 2007 vereinbarten konkreten und umfassenden Mandat für die Regierungskonferenz wurde die Grundlage für die Ausarbeitung eines Reformvertrags geschaffen, mit dem alle wesentlichen Neuerungen des bei den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden im Jahr 2005 gescheiterten Vertrags über eine Verfassung für Europa umgesetzt werden.
- 2. Der Bundesrat begrüßt, dass insbesondere die folgenden, vor allem für die Regionen und Kommunen wesentlichen Fortschritte mit dem Vertrag von Lissabon erreicht werden:
- - Stärkung der nationalen Parlamente (in Deutschland von Bundestag und Bundesrat) durch das Subsidiaritäts-Frühwarnsystem und das Klagerecht der nationalen Parlamente zum EuGH bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip,
- - Stärkung des Ausschusses der Regionen durch ein Klagerecht zum EuGH bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip und bei Verletzung eigener Rechte,
- - Verbesserung der Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten insbesondere durch die Klarstellung, dass Zielbestimmungen keine EU-Kompetenzen begründen, die Einführung von drei Kompetenzkategorien und die Stärkung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, wobei klargestellt wird, dass alle der EU nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben,
- - Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, die in deren jeweiliger politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.
- 3. Der Bundesrat misst darüber hinaus folgenden weiteren Neuerungen des Vertrags von Lissabon, mit denen die EU handlungsfähiger, demokratischer, bürgernäher und transparenter wird, zentrale Bedeutung bei:
- - Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat, die als Regelfall normiert wird,
- - Einführung des Prinzips der doppelten Mehrheit im Rat, wonach eine qualifizierte Mehrheit erreicht ist, wenn mindestens 55 % der Mitgliedstaaten zustimmen und diese Mitgliedstaaten mindestens 65 % der Bevölkerung der EU repräsentieren - wenn auch das Inkrafttreten auf den 1. November 2014 verschoben wurde und noch bis zum 31. März 2017 jeder Mitgliedstaat eine Abstimmung nach den Regeln des Vertrags von Nizza verlangen kann,
- - Schaffung des Amtes eines auf zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten des Europäischen Rates,
- - Schaffung eines Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der Vorsitzender des Außenministerrates und zugleich Vizepräsident der Kommission ist,
- - Öffentlichkeit der Tagungen des Rates bei Beratung oder Abstimmung über Gesetzgebungsakte,
- - Stärkung des Europäischen Parlaments durch Festlegung der Mitentscheidung als Regelfall, Ausweitung seiner Haushaltsbefugnisse und Wahl des Präsidenten der Kommission auf Vorschlag des Europäischen Rates, der dabei das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament berücksichtigt,
- - Begrenzung der Größe der Kommission auf eine Anzahl von zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten ab November 2014,
- - Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta,
- - Einführung eines Bürgerbegehrens, das einer Million Unionsbürgerinnen und -bürgern die Möglichkeit gibt, die Kommission zur Vorlage von Rechtsetzungsvorschlägen aufzufordern,
- - Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP).
- 4. Der Bundesrat begrüßt, dass der Vertrag von Lissabon - gemäß dem beim Europäischen Rat im Juni 2007 vereinbarten Mandat für die Regierungskonferenz - auch einige konkrete Verbesserungen gegenüber dem Verfassungsvertrag enthält. Das gilt insbesondere für die weiteren Klarstellungen zur Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten und die weitere Stärkung der nationalen Parlamente.
Der Bundesrat begrüßt vor allem die Verlängerung der Frist für die Erhebung der Subsidiaritätsrüge im Rahmen des Frühwarnsystems von sechs auf acht Wochen sowie den zusätzlichen Mechanismus zur Verstärkung der Subsidiaritätskontrolle, wenn eine Subsidiaritätsrüge mit der Mehrheit der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen erhoben wird. Zudem werden in einem Protokoll zum Vertrag von Lissabon die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und kommunalen Behörden bei der Ausgestaltung der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse unterstrichen.
Der Bundesrat begrüßt in diesem Zusammenhang auch, dass die Kommission seit September 2006 den nationalen Parlamenten alle neuen Vorschläge und Konsultationspapiere direkt übermittelt und ihnen die nicht an eine Frist gebundene Möglichkeit zur umfassenden Stellungnahme gibt. Er bekräftigt seine bereits am 12. Oktober 2007 (BR-Drucksache 569/07(B) ) und am 9. November 2007 (BR-Drucksache 390/07(B) ) erhobene Bitte an die Kommission, diese Praxis ungeachtet der förmlichen Rechte der nationalen Parlamente gemäß dem Vertrag von Lissabon auch nach dessen Inkrafttreten fortzusetzen.
- 5. Der Bundesrat würdigt, dass die Bundesregierung im Verlauf der Regierungskonferenz eine Reihe von Anmerkungen und Anliegen der Länder zum Entwurf des Reformvertrags aufgegriffen und überwiegend auch erfolgreich in die Arbeiten der Regierungskonferenz eingebracht hat. Das gilt insbesondere für die Forderung, den Ausschuss der Regionen nicht nur im Vertrag über die Arbeitsweise der EU, sondern bereits an prominenter Stelle in dem neuen Artikel 9 EUV bei den Organen der EU als beratende Einrichtung zu erwähnen. Das ist ein wichtiges politisches Signal für die Bedeutung des Ausschusses der Regionen im institutionellen Gefüge der EU.
- 6. Nach Auffassung des Bundesrates wurden zu den vor der Regierungskonferenz am 18./19. Oktober 2007 in Lissabon noch offenen Fragen, zu denen vor allem der rechtliche Stellenwert des "Ioannina-Mechanismus", die Erhöhung der Zahl der Generalanwälte beim EuGH und die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments zählten, akzeptable Lösungen gefunden. Zu begrüßen ist die Ergänzung der "Erklärung zur Abgrenzung der Zuständigkeiten" um einen Passus, wonach der Rat die Kommission auffordern kann, Vorschläge für die Aufhebung eines Rechtsaktes zu unterbreiten, und wonach die Konferenz begrüßt, dass die Kommission solchen Aufforderungen besondere Beachtung schenken wird.
- 7. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass der Vertrag von Lissabon nicht alle seine Anliegen berücksichtigt. Das gilt neben anderem für die Aufnahme eines Gottesbezugs in die vertraglichen Grundlagen der EU. Auch werden die von den Ländern bereits beim Verfassungsvertrag zum Teil kritisierten Erweiterungen von EU-Kompetenzen (z.B. in den Bereichen Daseinsvorsorge und Tourismus) im Vertrag von Lissabon übernommen. Zu bedauern ist, dass Deutschland drei Sitze im Europäischen Parlament verliert und die Europäische Zentralbank nicht als "sonstiges Organ" abgesetzt von den anderen Organen der EU in dem neuen Artikel 9 EUV aufgeführt wird.
Bedauerlich ist auch, dass von der Verabschiedung eines einheitlichen und transparenten Vertragstextes Abstand genommen und das angestrebte Ziel einer besseren Sichtbarkeit der EU für die Bürgerinnen und Bürger etwa durch die Nennung der Symbole der EU und die Wiedergabe der Grundrechtecharta im Vertrag aufgegeben werden musste. Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung seine Anregung der Abgabe einer Erklärung Deutschlands zu den Symbolen der EU aufgegriffen und 15 weitere Mitgliedstaaten für eine Unterstützung dieser Erklärung gewonnen hat, wonach die Flagge, die Hymne, der Leitspruch, der Euro und der Europatag am 9. Mai für diese Mitgliedstaaten auch künftig als Symbole die Zusammengehörigkeit der Menschen in der EU und ihre Verbundenheit mit dieser zum Ausdruck bringen. Damit soll verdeutlicht werden, dass Deutschland diese Symbole, die jetzt nicht mehr im Vertrag genannt werden, weiterhin verwendet.
- 8. Der Bundesrat unterstützt den Vertrag von Lissabon nachdrücklich als einen Gesamtkompromiss, der die EU nach innen und nach außen stärkt. Er hofft, dass der Ratifizierungsprozess in allen Mitgliedstaaten zügig und erfolgreich verläuft, damit der Reformvertrag wie geplant zum 1. Januar 2009, spätestens jedoch rechtzeitig vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009, in Kraft treten kann.
- 9. Nach Auffassung des Bundesrates muss die EU die verbesserte vertragliche Grundlage dazu nutzen, die großen übergreifenden Herausforderungen unserer Zeit wie Globalisierung, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas und des europäischen Sozialmodells, Bekämpfung von Terrorismus und schwerer grenzüberschreitender Kriminalität, Bekämpfung der illegalen Einwanderung, Energieversorgungssicherheit sowie Umwelt- und Klimaschutz effektiv anzugehen.
Der Bundesrat erwartet auch, dass die neuen Bestimmungen zur Verbesserung der Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten und zur Stärkung des Subsidiaritätsprinzips in der EU-Praxis führen. Die EU sollte sich jetzt auf die Aufgaben konzentrieren, bei denen der europäische Mehrwert deutlich erkennbar ist, ihre Werte noch stärker vermitteln und die Interessen Europas im internationalen Rahmen wirksam vertreten.
- 10. Der Bundesrat weist darauf hin, dass im Zuge der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon in Deutschland die innerstaatliche Umsetzung der den nationalen Parlamenten hierdurch neu eingeräumten Rechte zu regeln ist. Er geht davon aus, dass die Bestimmungen des im Rahmen der Ratifizierung des Verfassungsvertrags im Jahr 2005 vom Deutschen Bundestag und Bundesrat angenommenen "Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union" in aktualisierter Form in Kraft gesetzt werden. Der Bundesrat tritt für die Aufnahme einer Regelung in das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG) ein, wonach die Bundesregierung vor einem Beschluss des Rates über die Zusammensetzung des Ausschusses der Regionen das Einvernehmen mit dem Bundesrat herstellt. Die entsprechende Änderung des EUZBLG sollte in das Begleitgesetz mit aufgenommen werden. Der Bundesrat begrüßt, dass die Gespräche zwischen Bund und Ländern zur Überarbeitung der Bund-Länder-Vereinbarung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union wieder aufgenommen worden sind. Im Interesse einer raschen Ratifizierung erwartet der Bundesrat, dass zu den Anliegen der Länder möglichst schnell tragfähige Ergebnisse erzielt werden.