Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 15. Dezember 2005 angenommen.
Das Europäische Parlament,
- - unter Hinweis auf die Artikel 6 und 7 des EU-Vertrags,
- - unter Hinweis auf die Artikel 2, 3, 5 und 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention,
- - unter Hinweis auf die Artikel 1, 4, 19, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,
- - unter Hinweis auf die Artikel 2, 3 und 11 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe,
- - unter Hinweis auf die schriftlichen Anfragen E-2203 und E-2204/05 von Martine Roure, Giovanni Claudio Fava und Wolfgang Kreissl-Dörfler (PSE) vom 9. Juni 2005 an die Kommission und den Rat zu den Fällen von "außerordentlichen Überstellungen"("extraordinary renditions") im Gebiet der Europäischen Union,
- - unter Hinweis auf den transatlantischen Dialog zwischen der Europäischen Union und den USA und insbesondere das Gipfeltreffen der Europäischen Union und der USA vom 20. Juni 2005 und die im Anschluss daran verabschiedeten Erklärungen der Europäischen Union und der USA zur Terrorismusbekämpfung und zu Demokratie, Freiheit und Menschenrechten,
- - unter Hinweis auf die Bestimmungen der Abkommen zwischen der Europäischen Union und den USA über Rechtshilfe1 und Auslieferung2,
- - gestützt auf Artikel 103 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
A. in der Erwägung, dass vom internationalen Terrorismus eine der größten Bedrohungen für die Gesellschaft in der Europäischen Union und für ihre Werte ausgeht,
B. in der Erwägung, dass in der "Washington Post" am 2. November 2005 behauptet wurde die CIA habe Terrorverdächtige in geheimen Einrichtungen in Osteuropa inhaftiert und verhört, und zwar im Rahmen eines als "extraordinary rendition" bekannten weltweiten geheimen Transport-, Gefängnis- und Befragungssystems, das nach den Anschlägen vom 11. September 2001 geschaffen wurde und außerhalb jeglicher gerichtlicher Kontrollen oder Auslieferungserfordernisse funktioniert,
C. in der Erwägung, dass die Zusammenarbeit im Bereich der Nachrichtendienste nach wie vor in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und unter ihre bilateralen und multilateralen Beziehungen fällt,
D. besorgt darüber, dass im Zuge des seit dem 11. September 2001 geführten Kampfes gegen den internationalen Terrorismus offensichtlich grundlegende europäische und internationale Rechte verletzt worden sind,
E. in der Erwägung, dass sich diese und weitere Terrorverdächtige als "Geisterhäftlinge" in US- oder ausländischem Gewahrsam befinden sollen, was bedeutet, dass sie möglicherweise entführt wurden und von der Außenwelt isoliert sind, ohne irgendwelche Rechtsmittel oder Zugang zu anwaltlicher Vertretung oder zum Roten Kreuz/Roten Halbmond,
F. in der Erwägung, dass derartige Gefangene möglicherweise grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Folter ausgesetzt sind,
G. in der Erwägung, dass in mehreren Mitgliedstaaten gerichtliche, parlamentarische oder offizielle Untersuchungen eingeleitet wurden, um die mutmaßliche Rolle der CIA bei der Entführung und nachfolgenden Überstellung und illegalen Inhaftierung dieser "Geisterhäftlinge" zu untersuchen,
H. in der Erwägung, dass solche Untersuchungen sowie Presseenthüllungen und Berichte von Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch Codes und Verweise auf Flugzeuge und Flughäfen offenbart haben, die mutmaßlich von der CIA für den Transport von Verdächtigen im Rahmen "außerordentlicher Überstellungen" genutzt wurden darunter auch Einrichtungen wie Aviano (Italien), Ramstein (Deutschland) sowie Kogalniceanu (Rumänien), die im Hoheitsgebiet der Europäischen Union und ihrer künftigen Mitgliedstaaten gelegen sind,
I. in der Erwägung, dass jede Hilfe oder Unterstützung, die Vertretern eines anderen Staates bei Praktiken gewährt wird, die mit einem geheimen Entzug der Freiheit und mit Folter verbunden ist, einschließlich Hilfe oder Unterstützung beim Transport mit Flugzeugen und Nutzung von Flughafeneinrichtungen, auch einen Verstoß gegen die Artikel 3 und 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt;
J. in der Erwägung, dass der Generalsekretär des Europarats am 21. November 2005 eine Untersuchung dieser Vorwürfe gemäß Artikel 52 der Europäischen Menschenrechtskonvention eingeleitet und die 45 Regierungen, die Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention sind, aufgefordert hat, bis 21. Februar 2006 darauf zu reagieren,
K. in der Erwägung, dass die Angelegenheit rechtliche, moralische und sicherheitspolitische Auswirkungen auf den Kampf gegen den Terror hat, den die Europäische Union kämpfen und gewinnen will,
L. in der Erwägung, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats einen Berichterstatter, Dick Marty, mit der Leitung dieser Untersuchung beauftragt hat,
M. in der Erwägung, dass es äußerst wichtig ist, eine umfassende Untersuchung aller Vorwürfe betreffend Verstöße der USA gegen die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit und die Komplizenschaft europäischer Regierungen durchzuführen, da damit gravierende Auswirkungen auf die Achtung der Grundrechte in der Europäischen Union verbunden sind,
- 1. bekräftigt erneut seine Entschlossenheit, den Terrorismus zu bekämpfen, betont aber, dass der Kampf gegen den Terrorismus nicht durch den Verzicht auf eben die Grundsätze gewonnen werden kann, die der Terrorismus zu zerstören versucht, wobei insbesondere der Schutz der Grundrechte nie gefährdet werden darf;
- 2. vertritt die Ansicht, dass der Kampf gegen den Terrorismus mit legalen Mitteln gefochten werden muss und dass diese neue Art von Krieg unter Achtung des Völkerrechts und mit einer verantwortungsbewussten Haltung sowohl der Regierungen als auch der öffentlichen Meinung gewonnen werden muss;
- 3. verurteilt jede Anwendung von Folter, einschließlich grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, aufs Schärfste;
- 4. weist darauf hin, dass Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union, die Union und die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Grundrechte zu respektieren, wie sie durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert sind und aus den gemeinsamen verfassungsmäßigen Traditionen der Mitgliedstaaten resultieren, und dass die internationalen Verpflichtungen ebenso wie diese gemeinsamen Grundsätze den Einsatz der Folter verbieten;
- 5. weist darauf hin, dass Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union die Möglichkeit der Union vorsieht, im Fall einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Grundrechte durch einen Mitgliedstaat oder falls eine entsprechende Gefahr besteht, bestimmte Rechte auszusetzen, einschließlich der Stimmrechte im Rat, wie kürzlich von Franco Frattini, Vizepräsident der Kommission, bestätigt wurde;
- 6. bekundet seine tiefe Sorge über die Vorwürfe betreffend die Rolle der CIA bei der illegalen Entführung, Überstellung, geheimen Inhaftierung und Folterung von Terrorverdächtigen sowie über die mutmaßliche Existenz geheimer Gefängnisse der CIA im Gebiet der Europäischen Union und der Beitrittsländer;
- 7. betont, dass umfassende Transparenz und gegenseitiger Respekt für grundlegende Gesetzesprinzipien für eine weitere Stärkung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA und die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung wesentlich sind;
- 8. begrüßt die Untersuchung der Vorwürfe durch den Europarat und fordert alle Mitgliedstaaten dringend auf, umgehend alle diesbezüglich relevanten Informationen zu übermitteln;
- 9. fordert den Rat und die Kommission auf, Presseberichte aufzuklären, in denen von einem Abkommen die Rede geht, das im Jahre 2003 zwischen der Union und den Vereinigten Staaten abgeschlossen worden sein soll, um den USA Zugang zu "besonderen" Transporteinrichtungen zu gewähren;
- 10. fordert alle betroffenen Regierungen auf, alle möglichen Anstrengungen zu unternehmen um die Vorwürfe zu untersuchen und der Kommission und dem Europarat sämtliche erforderlichen Informationen zu liefern;
- 11. vertritt die Auffassung, dass das Europäische Parlament parallel und unter Nutzung der Erkenntnisse des Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Dick Marty, eine eigene parlamentarische Untersuchung durchführen muss, was zumindest durch einen gemäß Artikel 175 seiner Geschäftsordnung eingesetzten Nichtständigen Ausschuss und unter Nutzung der Erfahrungen seines Netzwerks von Sachverständigen für Grundrecht erfolgen sollte, um unter anderem zu prüfen,
- a) ob die CIA, auch durch Flüge und Inhaftierungen an geheimen Standorten, in "außerordentliche Überstellungen" von "Geisterhäftlingen" verwickelt war, die isoliert von der Außenwelt ohne irgendwelche Rechtsmittel oder Zugang zu anwaltlicher Vertretung inhaftiert sind, grausamer Behandlung oder Folter ausgesetzt sind und im Gebiet der Europäischen Union transportiert wurden,
- b) ob ein solches Vorgehen im Gebiet der Europäischen Union gemäß Artikel 6 des EU-Vertrags, Artikel 2, 3, 5 und 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Abkommen zwischen der Europäischen Union und den USA über Auslieferung und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen als legal betrachtet werden kann,
- c) ob Unionsbürger oder Personen mit rechtmäßigem Wohnsitz in der Europäischen Union zu denjenigen gehörten, die in "außerordentliche Überstellungen", illegale Festnahmen oder Folterungen im Rahmen der mutmaßlichen geheimen CIA-Operationen im Gebiet der Europäischen Union verwickelt waren,
- d) ob Mitgliedstaaten, Amtsträger oder in offizieller Eigenschaft tätige Personen aktiv oder passiv in die eingestandene oder unbestätigte Freiheitsberaubung in Bezug auf Personen, einschließlich deren Überstellung, Verbringung, Inhaftierung oder Folterung, verwickelt waren;
- 12. ist entschlossen, das Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union einzuleiten wenn die Untersuchungen die Anschuldigungen bestätigen, dass irgendein Mitgliedstaat aktiv oder passiv Unterstützung für Personen geleistet hat, die im Namen anderer Regierungen derartige Maßnahmen durchgeführt haben;
- 13. fordert den Europäischen Rat auf, diese Fragen im Rahmen seiner Tagung am 16./17. Dezember 2005 zu erörtern, und fordert, dass der derzeitige britische Vorsitz und der künftige österreichische Vorsitz gemeinsam mit Präsident Josep Borrell dringend die notwendigen Kontakte zu US-Außenministerin Condoleezza Rice, dem US-Kongress, den nationalen Parlamenten und dem Europarat aufnehmen;
- 14. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten und Beitrittsländer, dem Europarat sowie beiden Kammern des Kongresses der Vereinigten Staaten zu übermitteln.
1 ABl. L 181 vom 19.7.2003, S. 27.
2 ABl. L 181 vom 19.7.2003, S. 34.