Der Bundesrat hat in seiner 821. Sitzung am 7. April 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
A. Zum Richtlinienvorschlag allgemein
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Absicht der Kommission, mit dem Richtlinienvorschlag gemeinschaftsweite Mindeststandards für die grenzüberschreitende Ausübung von Aktionärsrechten bei börsennotierten Gesellschaften zu schaffen. Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die durch die Regulierung bei den betroffenen Gesellschaften entstehenden Kosten und der dadurch verursachte Aufwand in angemessenem Verhältnis zum Regulierungszweck stehen müssen.
- 2. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass im Hinblick auf die Zunahme grenzüberschreitender Kapitalbeteiligungen nicht nur institutioneller Anleger ein gemeinschaftsweiter Mindeststandard von Aktionärsrechten insbesondere in den Bereichen der Erleichterung der grenzüberschreitenden Stimmrechtsausübung und des Zugangs zu Hauptversammlungen erforderlich ist. Der Bundesrat befürwortet eine gemeinschaftsrechtliche Regelung durch eine Richtlinie, die eine Mindestharmonisierung gewährleistet und eine Überreglementierung vermeidet (vgl. Artikel 3 des Richtlinienvorschlags). Der Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags ist zutreffend auf börsennotierte Aktiengesellschaften beschränkt und sieht die Möglichkeit der Herausnahme von Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren im Sinne der Richtlinie 85/611/EWG vor. Der Bundesrat begrüßt ferner, dass die in den dem Richtlinienvorschlag vorausgehenden Konsultationen angesprochenen Bereiche der Wertpapierleihe, der Aktienzertifikate und der Sprache von Hauptversammlungsdokumenten keinen Eingang in die Richtlinie, sondern ggf. in eine Empfehlung finden sollen.
- 3. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, gegenüber der Kommission insbesondere auf folgende Punkte hinzuweisen:
B. Zu den einzelnen Vorschriften
- Zu Artikel 5 - Einladung zur Hauptversammlung
Artikel 5 zielt auf die Schaffung gemeinschaftsweiter Mindeststandards für Einladungen zu Hauptversammlungen börsennotierter Gesellschaften ab. Der Vollständigkeit halber sollten die Informationen in Absatz 2 Buchstabe a auch die Firma und den Sitz des Emittenten nennen.
Absatz 2 Buchstabe e geht über das deutsche Recht insoweit hinaus, als er die Angabe einer Internet-Webseite in der Einladung zur Hauptversammlung verlangt, unter der die in Absatz 3 genannten Informationen abrufbar sind. Der Deutsche Corporate Governance Kodex in der Fassung vom 2. Juni 2005 sieht eine entsprechende Internetveröffentlichung in Nummer 2.3.1 vor. Der Bundesrat stimmt einer Internetveröffentlichung unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung der Information ausländischer Anleger zu, da der Bundesanzeiger - auch in elektronischer Form - dem Informationsbedürfnis nicht hinreichend genügen dürfte. Allerdings sollte kritisch überprüft werden, ob dem Informationsbedürfnis ausländischer Anleger börsennotierter Gesellschaften nur durch eine Verpflichtung, nicht aber bereits durch eine Empfehlung Genüge getan würde.
Hinsichtlich des Inhalts der Webseiten-Informationen sieht Absatz 3 die Angabe der Gesamtzahl der Aktien und der Stimmrechte vor. Diese Angabe und insbesondere die Verpflichtung hierzu sind für die Zugänglichkeit zur Hauptversammlung ebenso wenig erforderlich wie für die Erleichterung der Stimmrechtsausübung. Eine derartige Verpflichtung wurde in den dem Richtlinienvorschlag vorausgehenden Konsultationen bislang nicht thematisiert. Im Hinblick auf die Statuierung von Mindeststandards und die Vermeidung einer Überreglementierung sollte von einer entsprechenden Verpflichtung abgesehen werden.
Absatz 3 Buchstabe d beinhaltet eine Verpflichtung bezüglich des Vorhaltens von Formularen für eine Abstimmung in Abwesenheit. Die Formulierung erfasst auch die Abstimmung per Brief, d.h. eine Abstimmung vor der Hauptversammlung. Insoweit korrespondiert die Vorschrift mit Artikel 12 des Richtlinienvorschlags. Eine Abstimmung vor der Hauptversammlung steht indes im Widerspruch zum Grundsatz der Stimmrechtsausübung der Aktionäre in der Hauptversammlung und nach dem erlebten Verlauf der Hauptversammlung. Ein derartiger Systemwechsel sollte kritisch hinterfragt werden, zumal sich die begrüßenswerte Zielsetzung des Richtlinienvorschlags in einfacherer Weise durch die Erleichterung und Harmonisierung der Stimmrechtsvertretung erreichen lässt. Ferner ist zu berücksichtigen, dass sich im Rahmen des Ablaufs der Hauptversammlung Änderungen hinsichtlich des Verfahrens der Stimmabgabe ergeben können, insbesondere wenn diese nicht in der Satzung festgelegt ist, was bei brieflichen Vorab-Stimmabgaben kaum lösbare Probleme hervorrufen würde. Gleiches gilt im Hinblick auf Gegenanträge und auf neue Beschlussvorschläge (vgl. § 124 Abs. 4 AktG).
- Zu Artikel 6 - Recht auf Ergänzung der Tagesordnung und auf Einbringung von Beschlussvorlagen
Gegen die vorgebrachten Mindeststandards bestehen keine Bedenken. Die in Absatz 3 vorgesehene "rechtzeitige" Ausübung der Rechte wird zutreffend in die Verantwortung der Mitgliedstaaten gelegt.
- Zu Artikel 8 - Teilnahme an der Hauptversammlung auf elektronischem Wege
Der Ansatz der Richtlinie, etwaige rechtliche Hindernisse für eine elektronische Hauptversammlungsteilnahme abzubauen, ohne bestimmte Pflichten zu statuieren, wird begrüßt. Das Gebrauchmachen von elektronischen Möglichkeiten soll der tatsächlichen Rechtsentwicklung und der Satzungsgestaltung überlassen bleiben.
- Zu Artikel 9 - Fragerecht
Das Forum zur Ausübung der Aktionärsrechte ist die Hauptversammlung. Ein Auskunftsrecht im Sinne eines Auskunftsanspruchs besteht demgemäß nur in der Hauptversammlung. Dieses Recht wird grundsätzlich mündlich, ggf. auch schriftlich und bei entsprechenden Vorkehrungen künftig auch elektronisch ausgeübt. Ebenso wird die Auskunft in der Hauptversammlung mündlich erteilt. Der Übung börsennotierter Gesellschaften entspricht es freilich, zur Vorbereitung der Hauptversammlung vorab Dokumente mit möglichen Fragen und deren Antworten zu erstellen. Mit dieser Praxis korrespondieren die Regelungen gemäß Absatz 2 Satz 2 und auch gemäß § 131 Abs. 3 Nr. 7 AktG, wonach ein Auskunftsverweigerungsrecht besteht bzw. die Auskunft als erteilt gilt, wenn die Auskunft auf der Webseite des Emittenten abrufbar ist.
Absatz 1 beinhaltet insofern einen Systembruch, als er ein Auskunftsrecht des Aktionärs und damit eine Beantwortungspflicht des Emittenten nicht erst in der Hauptversammlung, sondern bereits vor dieser statuiert.
Absatz 1 sollte daher abgeändert werden:
Das in Artikel 9 Abs. 1 vorgesehene - nicht näher konkretisierte - Recht der Aktionäre, bereits vor der Hauptversammlung Fragen in schriftlicher oder mündlicher Form zu stellen, würde in der Regel zu einer unangemessenen Belastung der betroffenen börsennotierten Gesellschaften führen. Da in diesem Fall mit einem erheblichen Anstieg der Zahl der Fragen zu rechnen wäre, würden die Gesellschaften im Hinblick auf die Beantwortung dieser Fragen mit einem deutlichen Mehraufwand belastet, der sich in einem entsprechenden Kostenanstieg niederschlüge. Außerdem würde das - aus der mangelhaften Beantwortung von Fragen resultierende - Anfechtungsrisiko bei Hauptversammlungsbeschlüssen deutlich zunehmen.
Ein Auskunftsrecht des Aktionärs vor der Hauptversammlung sollte in die Verantwortung der börsennotierten Gesellschaft gelegt werden, also der Satzungsgestaltung überlassen bleiben. Die betroffenen Unternehmen sollten selbst im Wege der Satzungsänderung darüber befinden können, ob ein Fragerecht der Aktionäre vor Durchführung der Hauptversammlung eingeräumt wird. Ohne eine entsprechende Satzungsregelung bzw. -änderung sollten kein solches Auskunftsrecht des Aktionärs und keine Auskunftspflicht des Emittenten vor der Hauptversammlung bestehen.
Hilfsweise sollte es zumindest im Ermessen des Emittenten stehen, zur Vermeidung von Verzögerungen in der Hauptversammlung Auskünfte vor der Hauptversammlung auf der Webseite zu erteilen. Fragerechte vor der Hauptversammlung sollten dabei eine zeitliche Nähe zu dieser aufweisen.
Um unnötige Belastungen der betroffenen Unternehmen zu vermeiden, sollte geprüft werden, ob die in Artikel 9 Abs. 3 vorgesehene Regelung, wonach die Antworten auf die Fragen der Aktionäre allen Aktionären in vollständiger Fassung auf der Internet-Webseite des Emittenten zu Verfügung zu stellen sind, im Hinblick auf die mit der Richtlinie verfolgte Zielsetzung tatsächlich erforderlich ist.
Bei der Fassung des Absatzes 3 sollten daher im Hinblick auf die Zielsetzung der Richtlinie das Eigeninteresse des Emittenten und die derzeitigen Standards daraufhin geprüft werden, ob nicht bereits eine Empfehlung zur Webseiten-Publikation genügt.
- Zu Artikel 10 - Stimmrechtsvertretung
Absatz 1 Satz 2 sollte dahin gehend geändert werden, dass für den Stimmrechtsvertreter die Geschäftsfähigkeit bzw. die Rechts- und Geschäftsfähigkeit maßgebend sein sollen (vgl. auch Nummer 2.2.6 der Erläuterung zum Richtlinienvorschlag).
Artikel 10 lässt erfreulicherweise die Bereitstellung von weisungsgebundenen Stimmrechtsvertretern durch den Emittenten zu (vgl. § 134 AktG und Nummer 2.3.3 des Deutschen Corporate Governance Kodex).
- Zu Artikel 12 - Abstimmungen in Abwesenheit
Unter den Voraussetzungen des Artikels 12 Abs. 1 hat jeder Aktionär einer börsennotierten Gesellschaft die Möglichkeit, per Post vor der Hauptversammlung abzustimmen. Absatz 1 steht im Widerspruch mit der Ausübung der Aktionärsrechte in der Hauptversammlung. Eine Beschränkung der Stimmrechtsausübung ist mit dieser zeitlichen Beschränkung nicht verbunden, da das Stimmrecht nach dem erlebten Verlauf der Hauptversammlung durch den Aktionär oder durch den bestellten Stimmrechtsvertreter ausgeübt werden kann.
Ein kapitalmarktpolitisches oder praktisches Bedürfnis für die Einführung der "Briefwahl" ist nicht erkennbar. Vielmehr sprechen praktische Erwägungen gegen eine Stimmrechtsausübung außerhalb der Hauptversammlung. Ein Bedürfnis für eine schriftliche Vorab-Stimmrechtsausübung und eine Zuleitung dieser Ausübung an den Emittenten per Post besteht unter dem Gesichtspunkt der Erleichterung der Stimmrechtsausübung nicht. Zu berücksichtigen ist ferner die Problematik möglicher Änderungen bei Abstimmungsverfahren während der Hauptversammlung (siehe oben, Ziffer 4 zu Artikel 5 a. E.). Die bei einer "Briefwahl" erforderliche frühzeitige Festlegung nähme dem Aktionär die Möglichkeit, im Falle aktueller Entwicklungen in Kenntnis sämtlicher entscheidungsrelevanter Fakten abzustimmen. Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf während der Hauptversammlung gestellte Gegenanträge und neue Beschlussvorschläge. Auch eine gegebenenfalls künftige Stimmabgabe in elektronischer Form und zusätzlich zur Präsenz-Hauptversammlung ist lediglich zum Zeitpunkt der Abstimmung auf der Hauptversammlung möglich, nicht aber davor oder danach. Ein Bedürfnis für eine Stimmrechtsausübung außerhalb der Hauptversammlung ist nicht erkennbar. Die Schaffung der logistischen Voraussetzungen zur Durchführung der "Briefwahl", insbesondere die Notwendigkeit, entsprechende Unterlagen zu versenden, würde einen unangemessenen Aufwand bei den betroffenen Unternehmen nach sich ziehen. Hinzu kämen womöglich rechtliche Unsicherheiten - etwa hinsichtlich des Nachweises des rechtzeitigen Zugangs der Wahlunterlagen.
- Zu Artikel 13 - Weisungsgebundene Abstimmung
Absatz 4 sollte im Hinblick auf die Erläuterung in Nummer 2.2.9 des Richtlinienvorschlags sprachlich klarer gefasst werden. Im Richtlinientext sollte also zum Ausdruck kommen, dass Personen oder Einrichtungen, die Aktien ein und desselben Emittenten im Namen mehrerer Anleger in einem Sammelkonto halten, die Stimmrechte bei unterschiedlichen Weisungen dementsprechend aufteilen können.
- Zu Artikel 15 - Information nach der Hauptversammlung
Eine Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse durch den Emittenten auf seiner Internet-Webseite in dem in Absatz 2 genannten Umfang wird begrüßt. Zu vergegenwärtigen ist, dass diese Publikation ausschließlich zusätzlich zu den vorhandenen Publizitätspflichten tritt (zum Handelsregister einzureichende und öffentliche Hauptversammlungsniederschrift, Einsicht in das Teilnehmerverzeichnis und Auskunftsanspruch hinsichtlich der gefassten Beschlüsse gemäß § 130 Abs. 5, § 125 Abs. 4 und § 129 Abs. 4 Satz 2 AktG) und diese nicht ersetzen kann. Insofern sollte wiederum geprüft werden, ob die Bestimmung in eine Empfehlung anstatt in eine verbindliche Richtlinie aufgenommen werden sollte.