Punkt 49 der 808. Sitzung des Bundesrates am 18. Februar 2005
Der Bundesrat möge anstelle der Empfehlungen der Ausschüsse in BR-Drucksache 917/1/04 beschließen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Positionspapier der Bundesregierung "Wachstum und Beschäftigung für die Jahre bis 2010" als wichtigen Beitrag zum aktuellen Meinungsbildungsprozess zur Zukunft der Lissabon-Strategie.
- 2. Der Europäische Rat in Lissabon (Frühjahr 2000) hat das strategische Ziel vereinbart die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, verbunden mit einem hohen Maß an sozialem Zusammenhalt und Umweltschutz.
Eine Hochrangige Sachverständigengruppe unter Vorsitz von Wim Kok hat im Auftrag des Frühjahrsgipfels 2004 eine Halbzeitbilanz vorgelegt, aus der sich ergibt dass Europa insgesamt - abgesehen von einigen erfolgreichen Mitgliedstaaten - noch in weiter Ferne von den in Lissabon gesetzten Zielen liegt. Auf der Grundlage der von dieser Sachverständigengruppe sowie der von der Kommission unterbreiteten Vorschläge zur weiteren Entwicklung der Lissabon-Strategie werden die Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrer Frühjahrstagung im März 2005 die notwendigen politischen Schritte beschließen und die Weichen für eine Weiterentwicklung der Lissabon-Strategie stellen.
- 3. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, bei den Entscheidungen des EU-Gipfels im März 2005 zur Lissabon-Strategie seinen nachstehend dargelegten Positionen Rechnung zu tragen.
- 4. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass es bei der Weiterentwicklung maßgeblich darauf ankommt, klare Prioritäten jeweils in den einzelnen Zielsetzungen der Lissabon Strategie festzulegen und Priorität auf ihr wirksames Zusammenspiel im Sinne des Ziels der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung zu setzen. Der Bundesrat erkennt die Gleichberechtigung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zielsetzungen der Lissabon-Strategie an. Die Kohärenz zwischen den drei Säulen des Nachhaltigkeitsprinzips, nämlich Ökonomie, Ökologie und soziale Gerechtigkeit, muss bei der künftigen Prioritätensetzung gewahrt werden. Vor diesem Hintergrund befürwortet der Bundesrat die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung.
- 5. Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung der Förderung einer umfassend nachhaltigen Entwicklung hohe Priorität zumisst und dem Umweltschutz eine zentrale Rolle bei der Erreichung der Wachstums- und Beschäftigungsziele von Lissabon einräumt. Der Lissabon-Prozess zielt auf mehr und bessere Arbeitsplätze, einen größeren sozialen Zusammenhalt, nachhaltiges Wachstum und ein abgestimmtes Konzept zwischen den verschiedenen Politikbereichen. Diese Zielsetzungen und die des Göteborg-Gipfels, die ökonomische Entwicklung mit einer Verringerung negativer Umweltauswirkungen zu verbinden, legen aus der Sicht des Bundesrates die Zielrichtung zutreffend fest.
- 6. Durch die Lissabon-Strategie wird der Mitgliedstaat Deutschland Rückenwind für eigene beschäftigungspolitische Initiativen erhalten. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung in Auswertung der Halbzeitbilanz zur Lissabon-Strategie auf die Strategien für aktives Altern und für die berufliche Weiterbildung als Bestandteil des lebenslangen Lernens zügig weiterzuentwickeln. Der Bundesrat hält die Umsetzung dieser Strategien unter Beachtung der absehbaren demographischen Entwicklung in Deutschland für unabdingbar erforderlich.
- 7. Die Konzentration und Weiterentwicklung der Lissabon-Strategie muss im Einklang mit der Lage der öffentlichen Finanzen auf europäischer und nationaler Ebene stehen. Zusätzliche Belastungen direkter oder indirekter Art sind für die öffentlichen Haushalte in Deutschland nicht darstellbar. Auf europäischer Ebene muss sich die Konzentration und Weiterentwicklung in einen möglichst eng gefassten Haushaltsrahmen für die Jahre 2007 bis 2013 einpassen.
- 8. Die Budgetrestriktionen für die Konzentration und Weiterentwicklung des Lissabon-Prozesses sind auch vor dem Hintergrund der Maßgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu sehen. Die Verpflichtung zur makroökonomischen Stabilität sowie zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte sind wesentliche Elemente zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung.
Dabei unterstützt der Bundesrat die Bemühungen der Bundesregierung für eine ökonomisch angemessene Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung sowie für eine nachhaltige Ausrichtung der öffentlichen Finanzen.
- 9. Der Bundesrat unterstützt Initiativen mit dem Ziel, eine einheitliche Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung einzuführen und dadurch zum Abbau steuerlicher Hindernisse und zur Förderung des europäischen Wirtschaftsraums beizutragen. Dies ist ein wichtiger Schritt zu gleichen Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt. Der Bundesrat begrüßt den Beschluss der EU-Finanzminister zur Erteilung eines Mandats an die Kommission, in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit den Mitgliedstaaten die notwendigen Regeln für eine einheitliche Bemessungsgrundlage zu erarbeiten. Gemeinsames Ziel sollte es sein, den Entwurf der Regelung für eine einheitliche Bemessungsgrundlage Anfang 2006 vorzulegen.
- 10. Insbesondere müssen Maßnahmen ergriffen werden, die die Eigenkapitalsituation der Unternehmen, vor allem der KMU, verbessern. Die Finanzierung von Unternehmen beruht derzeit zu stark auf Darlehen und zu wenig auf Risikokapital. Das macht es für Gründer und KMU besonders schwierig, genügend Finanzmittel zu akquirieren.
- 11. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Bundesregierung, dass Innovation und Technologie die Grundlagen unseres Wohlstands sind. Er unterstützt die Forderung der Bundesregierung, das 7. Forschungsrahmenprogramm klar auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wissenschaft und Industrie auszurichten sowie bei Förderentscheidungen die Qualität der Vorhaben als entscheidendes Auswahlkriterium heranzuziehen. Im Übrigen stellt die Investition in Wissen und Bildung einen Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten und der EU insgesamt dar. Angesichts der engen Budgetrestriktionen kommt der Umschichtung der öffentlichen Haushalte auf wachstumswirksame Ausgaben im Bereich Sach- und Humankapital sowie zur Stärkung der wissensbasierten Gesellschaft deshalb eine größere Bedeutung zu.
- 12. Das sich verschlechternde wirtschaftliche Umfeld sowie externe Schocks (weltweite Terroranschläge, Finanzskandale, Zusammenbruch der New Economy, Preisanstieg für Öl und andere Rohstoffe) haben der Wirksamkeit der Lissabon-Strategie entgegengewirkt. Das erfordert, dass nunmehr die Anstrengungen zur Umsetzung der Lissabon-Strategie verstärkt werden.
- 13. Deutschland muss als größte Volkswirtschaft seiner besonderen Rolle in der EU gerecht werden. Die Agenda 2010 ist hierfür eine wichtige Voraussetzung.
Die Länder sind bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten und erwarten, dass auch die Bundesregierung in ihrem Zuständigkeitsbereich den Lissabon-Prozess weiter energisch vorantreibt. In einer gemeinsamen Anstrengung müssen die Bundesregierung und die Länder weitere Reformen, auch die Föderalismusreform, vollenden.
- 14. Nach Auffassung des Bundesrates sollten die nationalen Anstrengungen für mehr Wachstum und Arbeitsplätze mit Hilfe des Lissabon-Instrumentariums europapolitisch flankiert werden. Aufgabe der EU und der Kommission sollte es sein, über einen Best-Practice-Ansatz und das Aufzeigen vorhandener Stärken und Defizite das Bewusstsein für die Notwendigkeit konkreter Reformen in den Mitgliedstaaten und die Bereitschaft zu Reformen nachdrücklich zu fördern. Ohne solche deutlich verbesserte Argumentationshilfen der Kommission wird die Reformdebatte in den Mitgliedstaaten auch in Zukunft zu langsam vorankommen. Entscheidend wird sein, dass sich die vergleichende Bewertung im Sinne eines Benchmarking auf einige wenige Kriterien und Indikatoren beschränkt, mit denen die Leistung der Mitgliedstaaten in den Bereichen Wachstum und Beschäftigung gemessen wird.
Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung bei der Bewertung der Fortschritte von Lissabon auf eine Mischung aus qualitativen und quantitativen Elementen abstellt. Die weiteren Reformansätze müssen mit der beschäftigungs- und wirtschaftspolitischen Koordination auf EU-Ebene korrespondieren.
Besondere Bedeutung kommt dabei der Europäischen Beschäftigungsstrategie zu die auch zukünftig zusammen mit den Ländern umgesetzt werden muss.
- 15. Darüber hinaus muss die EU auch Maßnahmen in eigener Kompetenz ergreifen, mit denen die Erreichung der Lissabon-Ziele erleichtert wird. Hierzu gehört - wie auch die Bundesregierung in ihrem Positionspapier feststellt - die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen durch Abbau belastender, insbesondere kostenintensiver EU-Regulierungen bzw. der Verzicht auf überzogene neue Regulierungen. Die Deregulierungsinitiative sollte sich jedoch nicht nur auf Bestimmungen beziehen, welche die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen belasten, sondern auch auf Bestimmungen erstrecken, welche die Aufgaben der Verwaltung betreffen. Dies trüge zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und dadurch zur Verbesserung der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei. Nicht zuletzt sind auch ausreichende Handlungsspielräume der Wirtschaft und Bürger für die Akzeptanz der europäischen Politik unerlässlich.
- 16. Der Bundesrat ist davon überzeugt, dass die grenzüberschreitende Liberalisierung von Schlüsselmärkten und der Abbau von Handelshemmnissen wirtschaftliche Dynamik in Europa erzeugen und damit für die Erreichung der Lissabon-Ziele förderlich sind. Zu diesem Zweck hat die Kommission einen Vorschlag für eine EU-Dienstleistungsrichtlinie vorgelegt, wonach es Unternehmern und Freiberuflern erleichtert werden soll, ihre Dienstleistungen gemeinschaftsweit anzubieten. Dieser Richtlinienvorschlag, zu dem der Bundesrat (BR-Drucksache 128/04 (PDF) (Beschluss (2)) und am 24. September 2004 intensiv beraten und diskutiert. Insgesamt könnten damit wirtschaftliche Dynamik im Dienstleistungssektor erzeugt und neue zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Bundesrat befürchtet, dass das Herkunftslandprinzip zu einer Abwärtsspirale bei Sozial-, Umwelt- und Qualitätsstandards führt. Die Anwendung des Herkunftslandprinzips ist daher durch Ausnahmen und/oder durch europaweit harmonisierte Mindeststandards zu modifizieren. Der Bundesrat fordert ferner die Vollendung des Binnenmarkts für Strom und Gas zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und zum Nutzen der Verbraucherinnen und Verbraucher.