Der Bundesrat hat in seiner 820. Sitzung am 10. März 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Auseinandersetzung der Kommission mit der im Grünbuch aufgegriffenen Thematik als länderübergreifendem Problem in der Gesundheitsvorsorge.
- 2. Die Bundesregierung wird gebeten, in ihrer Stellungnahme zum Grünbuch "Förderung gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung: Eine europäische Dimension zur Verhinderung von Übergewicht, Adipositas und chronischen Krankheiten" gegenüber der Kommission folgende Punkte aufzunehmen:
- - Der Bundesrat unterstützt das Anliegen der EG, gesunde Ernährung und körperliche Bewegung zu fördern.
Dabei müssen sich alle Aktivitäten in der EU innerhalb des vertraglich vorgegebenen Kompetenzrahmens bewegen, das Subsidiaritätsprinzip strikt beachten und die Arbeiten in internationalen Organisationen berücksichtigen.
Daher sollte sich die Kommission darauf konzentrieren, den Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.
- - Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Erziehung zu gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung von frühster Kindheit an beginnen sollte, da bei Schuleintritt bereits wesentliche relevante Verhaltensweisen geprägt sind.
Der Bundesrat empfiehlt daher - über die vorgeschlagenen schulischen Maßnahmen hinausgehend:
- -- Maßnahmen der Elternbildung bereits während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren zur Stärkung der Erziehungskompetenz in Fragen der Gesundheit und
- -- Maßnahmen in Kindertagesstätten und anderen Einrichtungen.
- 3. Der Bundesrat betont, dass die Gesundheitserziehung nicht allein Angelegenheit der Eltern ist, sondern alle Akteure des Gesundheitswesens dazu aufgerufen sind die Eltern bei der Gesundheitserziehung durch geeignete Maßnahmen zu unterstützen.
- 4. Im Rahmen der mit dem Grünbuch angelaufenen Konsultation nimmt er zum Abschnitt "Aktionsbereiche" wie folgt Stellung:
Zu V.2. Verbraucheraufklärung
Verbraucheraufklärung und Verbraucherschutz sind seit vielen Jahren in der Öffentlichkeit ein zentrales Thema in zahlreichen Politikbereichen. Nachweislich ist in der Bundesrepublik Deutschland das Gesundheits- und Umweltbewusstsein in der Bevölkerung deutlich gestiegen. Dies schlägt sich einerseits in einem Trend zu mehr Natürlichkeit, Frische und Qualität bei der Auswahl von Lebensmitteln nieder. Andererseits werden auch die Art und Weise der Produktion von Lebensmitteln von einem Teil der Bevölkerung stärker beachtet. Fragen zur Herkunft der Lebensmittel, zur artgerechten Tierhaltung und zu umweltschonenden Produktionsverfahren werden in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert und fließen in die Kaufentscheidungen ein. Der Preis ist aber nach wie vor ein zentrales Entscheidungskriterium beim Kauf von Lebensmitteln.
Hier hat sich eine deutliche Polarisierung der Märkte herausgebildet.
Das Ernährungsverhalten und damit die Versorgung mit Nährstoffen hat sich im Durchschnitt der Bevölkerung in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich verbessert wie sich anhand der Ernährungsberichterstattung belegen lässt. Die Auswahl der Lebensmittel hat sich ebenfalls in eine aus gesundheitlicher Sicht, im Durchschnitt der Bevölkerung, günstige Richtung entwickelt: mehr Obst und Gemüse, mehr pflanzliche und weniger tierische Fette und eine positive Tendenz beim Fischverzehr.
Auffällig ist, dass es trotz gestiegenem Gesundheitsbewusstsein vielen Menschen schwer fällt, ihr eigenes Ernährungsverhalten zu ändern und das vorhandene Wissen in eine gesunderhaltende Ernährung und Bewegung umzusetzen.
Die bisher praktizierten Strategien in der Verbraucheraufklärung müssen sich somit im Hinblick auf die Prävention von Übergewicht einer kritischen Bewertung unterziehen.
Zu V.3. Schwerpunkt
Kinder und Jugendliche Untersuchungen zeigen, dass die Vermittlung von Ernährungswissen und eine entsprechende Umsetzung auf der Verhaltensebene dann einsetzt, wenn neben der kognitiven Vermittlung auch die praktische Handhabung und die emotionale Komponente (Gemeinschaftserlebnisse, Bedürfnisbefriedigung) mit in den Programmen integriert wurden. Darüber hinaus ist erforderlich, dass Wissensinhalte und Verpflegungsangebote in den Einrichtungen stimmig aufeinander bezogen sind und sich eine ansprechende Ess- und Wohlfühlkultur im gemeinschaftlichen Rahmen entwickelt, nicht nur im Verpflegungsbereich, sondern auch im Hinblick auf Freude an der Bewegung oder Ruhezonen, die eine Entspannung von Leistung und Lärm im schulischen Alltag ermöglichen.
Dies schließt ausdrücklich eine Vorbildfunktion der Lehr- und Betreuungskräfte mit ein.
- Interventionsansätze im Lebensraum Kindergarten und Schule (Settingansatz)
Die Erreichbarkeit von Risikogruppen (siehe Problemaufriss) stellt hinsichtlich einer Prävention von Übergewicht eine besondere Herausforderung dar.
Neben dem Elternhaus bildet die Schule einen wichtigen Ort für die individuelle Förderung und Gesundheitsbildung von Kindern und Jugendlichen.
Darüber hinaus können bildungsferne Zielgruppen oftmals nur über dieses Setting angesprochen und erreicht werden. In keiner anderen Lebensphase bestehen so effiziente Zugänge bei der Gesundheitsförderung von Kindern wie im schulischen Umfeld. Ein integriertes Konzept im Setting Kindergarten und Schule (Gemeinschaftsverpflegung) mit den entsprechenden Rahmenkriterien und Vorgaben für ein gesundheitsförderliches Verpflegungsangebot sowie mit ergänzenden erlebnis- und praxisbezogenen Angeboten einschließlich Eltern arbeit wird z.B. von Niedersachsen als der wirksamste Ansatz im Hinblick auf eine nachhaltige Gesundheitsförderung (Vermeidung von Übergewicht) bewertet.
- Problemaufriss
Verglichen mit anderen Altersgruppen geht es den Kindern und Jugendlichen gut - schließlich gehört die Bundesrepublik Deutschland bezüglich der Säuglings-,
Kinder- und Jugendlichensterblichkeit zu den Ländern mit den weltweit niedrigsten Sterberaten. Aber dies sagt praktisch nichts über den aktuellen Gesundheitszustand (chronische Erkrankungen, psychische Störungen, Übergewicht, Allergien, Stoffwechselstörungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Risiko- und Suchtverhalten) von Kindern und Jugendlichen aus.
Die Häufigkeit und das Ausmaß von Übergewicht (einschließlich Adipositas) im Kindesalter nehmen zu. Als Ursache wird neben Veranlagung, Veränderung der Umweltbedingungen, mangelnder Bewegung und falschem Essverhalten auch ein mangelndes Ernährungswissen der Kinder und ihrer Eltern bei einer immer komplexeren und reichhaltigeren Lebensmittelauswahl diskutiert. Die Vermittlung von Ernährungswissen ist gängiger Bestandteil von Präventions- und Behandlungskonzepten der Adipositas im Kinderalter.
Forschungsergebnisse zeigen aber, dass von einer alleinigen Steigerung des Ernährungswissens keine Reduktion des Übergewichts zu erwarten ist. Die Steigerung des Wissens über gesunde Ernährung zeigt darüber hinaus keinen Zusammenhang mit dem Therapieerfolg. Das vorhandene Ernährungswissen von Kindern und ihren Eltern wird von der Schulbildung der Eltern und dem Alter der Kinder stark beeinflusst.
Viele Krankheiten werden im Laufe des Lebens erst erworben. Wir erlernen den Umgang mit Gesundheit, mit Krankheit, mit Risiken. In der Kindheit und Jugend werden gesundheitsrelevante Einstellungen entscheidend geprägt. Wie wir
- - konsumieren - Nahrung, Unterhaltung, legale und illegale Suchtstoffe,
- - uns bewegen,
- - unsere Freizeit verbringen,
lernen, üben und entscheiden wir nicht erst mit 40, 50 oder 60 Jahren. Die
Weichen dafür werden in der Kindheit gestellt.
Aus Schuleingangsuntersuchungen z.B. in Niedersachsen und anderen Forschungen ist inzwischen bekannt, dass die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Kindern mit Migrationshintergrund und bei Kindern, deren Eltern eine gering qualifizierte bzw. keine abgeschlossene Schul-/Berufsausbildung haben bzw. deren Eltern nicht berufstätig sind, signifikant erhöht ist.
Eine reine Wissensvermittlung verkennt die Bildungsdefizite und die hoch belasteten Lebenswelten der betroffenen Gruppen. Z. B. sind in Deutschland inzwischen 10 bis 20 Prozent der Schulkinder übergewichtig - und bereits jeder dritte Jugendliche. Bewegungsmangel und Übergewicht sind die Grundlage
- - für späteren Bluthochdruck,
- - für vorzeitige koronare Herzerkrankungen,
- - für bösartige Neubildungen,
- - für orthopädische Erkrankungen, die ja einen Großteil der Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen verursachen und nicht zuletzt,
- - für den Typ 2-Diabetes (so genannter Altersdiabetes; den wir sonst erst bei Patienten im Alter von 70 oder 80 Jahren sehen).
Forscher der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde gehen davon aus, das Fettleibigkeit und Bewegungsmangel schon in Kürze das Rauchen als Todesursache Nummer 1 in den USA ablösen werden.
Als Ursache dafür ist aber nicht nur die Ernährung zu nennen, sondern viele weitere Ursachen, vor allen Dingen deren Zusammenwirken. Das Ess- und Bewegungsverhalten unterliegt einer soziokulturellen Prägung, die mit der Geburt beginnt. Die Entscheidung, was gegessen wird und ob Sport und Bewegung Spaß machen oder nur lästig sind, hängt neben dem Angebot an Nahrungsmitteln entscheidend von den familiären Gewohnheiten und nur bedingt von dem Wissen um eine gesunde Ernährung ab.
Die zu den Abschnitten V.2. und V.3. formulierten Feststellungen und Optionen haben ebenfalls Bezüge zu den Abschnitten V.4. bis V.8.
Zu V.11. Sonstiges (zweites Tiret)
Aus Sicht des Bundesrates ist die Gemeinschaftsverpflegung für Kinder und Jugendliche ein vorrangiges Aufgabengebiet bei der Bekämpfung von Übergewicht und seinen hohen gesundheitlichen Folgekosten in der EU.