21. Der Bundesrat lehnt ferner die in Artikel 23 Absatz 2 vorgesehene Gleichordnung von offenem Internet und Spezialdiensten (managed services) ab. Vielmehr ist von einem klaren Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten des offenen Internets gegenüber Spezialdiensten auszugehen. Anderenfalls würden die meist auf höhere Gewinnerzielung angelegten Spezialdienste zu einer Marginalisierung des offenen Internets und so zu einer nicht hinnehmbaren Beschränkung der Inhalte- und Meinungsvielfalt führen.
Die in Artikel 23 Absatz 2 vorgesehene Möglichkeit, beliebige Inhalte, Anwendungen und Dienste per Vertrag zu Spezialdiensten des jeweiligen Telekommunikationsanbieters mit zugesicherter Dienstqualität zu erklären, lehnt der Bundesrat ab. Solche Sondervereinbarungen stehen im Widerspruch zum Ziel eines funktionierenden Binnenmarktes, denn sie erschweren den Marktzutritt für weniger finanzkräftige Anbieter und sorgen für Wettbewerbsverzerrungen zugunsten etablierter, transnational agierender Unternehmen und zulasten aufstrebender, kleiner und mittelständischer oder nur regional agierender Anbieter. Der Bundesrat sieht darin langfristig nicht nur erhebliche Nachteile für die inhaltliche Vielfalt des Internets, sondern vor allem auch eine akute Gefahr für die Zukunft nichtkommerzieller, unabhängiger Informations- und Kommunikationsangebote. Soweit die Kommission dennoch an einer Unterscheidung zwischen Spezialdiensten und sonstigen Internetzugangsdiensten festhalten sollte, fordert der Bundesrat, Spezialdienste nur dann zuzulassen, wenn sie aus sachlichen, über das wirtschaftliche Eigeninteresse hinausgehenden Gründen zwingend auf einem technisch und organisatorisch getrennten Kanal realisiert werden müssen.
Der Bundesrat tritt dafür ein, dass Spezialdienste nur im Fall unabweisbarer technischer Notwendigkeiten angeboten werden dürfen, um echtzeitkritische Anwendungen in einer besonderen Qualität anbieten zu können.
Er hebt deshalb hervor, dass bei Geschäftsmodellen, die Verträge mit begrenztem Breitbandvolumen vorsehen, bestimmte Datendienste nicht beliebig aus dem Volumenverbrauch herausgerechnet bzw. nicht beliebig von einer Drosselung nach Verbrauch des gebuchten Datenvolumens ausgenommen werden dürfen.
23. Die in Artikel 23 Absatz 5 gewählte Formulierung erweckt im Umkehrschluss den Eindruck, eine "Blockierung, Verlangsamung, Verschlechterung oder Diskriminierung" gegenüber bestimmten Inhalten, Anwendungen, Diensten etc. sei jenseits von "vertraglich vereinbarten Datenvolumina oder -geschwindigkeiten" ohne jeglichen Sachgrund möglich. Dies könnte zunächst so verstanden werden, dass bei sogenannten Volumentarifen nicht nur eine allgemeine Drosselung der Datenübertragung nach Erreichen der vereinbarten Volumengrenze zulässig wäre, sondern auch jede willkürliche Beschränkung oder Priorisierung des Zugangs zu einzelnen Inhalten, Anwendungen oder Diensten des offenen Internets. Für Letzteres vermag der Bundesrat keine legitimen Gründe zu erkennen. Darüber hinaus könnte der Wortlaut des Artikels 23 Absatz 5 derart interpretiert werden, dass willkürliche Beschränkungen des freien Internetzugangs immer dann zulässig seien, wenn ein Endnutzer mit seinem Internetzugangsanbieter keine Vereinbarung über ein bestimmtes Datenvolumen oder eine bestimmte Datengeschwindigkeit getroffen hat, sondern ein Flatrate-Angebot o.ä. nutzen würde. Wegen der möglichen gravierenden Auswirkungen solcher Maßnahmen auf die Rechte und Freiheiten europäischer Bürgerinnen und Bürger hält der Bundesrat eine solche Regelung für nicht akzeptabel.
Der Bundesrat hält die in Artikel 23 Absatz 5 definierten Kriterien für "angemessene Verkehrsmanagementmaßnahmen" als gesetzliche Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung aller Datenpakete für zu weitgehend, zu unbestimmt und missbrauchsanfällig.
Besonders kritisch bewertet der Bundesrat die Regelung in Artikel 23 Absatz 5 Buchstabe a, wonach private Anbieter von Internetzugangsdiensten ermächtigt werden, beliebige Rechtsvorschriften durchzusetzen, Gerichtsbeschlüsse aller Rechtszweige faktisch zu vollziehen sowie Verbrechensbekämpfung und -prävention nach eigenem Ermessen zu betreiben. Eine solche Regelung ist offensichtlich nicht mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit vereinbar, denn sie impliziert die Wahrnehmung originär staatlicher Befugnisse durch Internetprovider und schafft so die Voraussetzungen für eine vollständige Privatisierung der Rechtsdurchsetzung. Sofern Artikel 23 Absatz 5 Buchstabe a das Vorhandensein entsprechender nationaler Rechtsvorschriften oder behördlicher Anordnungen gegenüber den Internetprovidern voraussetzt, könnte dies zu der Annahme führen, dass es den Mitgliedstaaten weiterhin freistehen soll, beliebige weitere Einschränkungen des Zugangs zum offenen Internet national vorzunehmen. Dies wäre ebenfalls nicht mit dem Regelungsziel eines diskriminierungsfreien Internetzugangs vereinbar.
Der Bundesrat bittet zu prüfen, ob Artikel 23 Absatz 5 Buchstabe a nicht besser durch eine Regelung ersetzt werden sollte, nach der Beschränkungen durch oder auf Grund von Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten unberührt bleiben.
Artikel 23 Absatz 5 soll vorrangig regeln, auf welche Datenleistungen der Kunde einen vertraglichen Leistungsanspruch hat. Eine Regelung zu Eingriffen in die Verfügbarkeit von Telekommunikationsdienstleistungen auf Grund von Umständen, die außerhalb der eigentlichen Vertragsbeziehung liegen, passt systematisch nicht in das Kapitel IV des Verordnungsvorschlags. Sofern über die bestehenden Beschränkungsmöglichkeiten beispielsweise auf Grund der Richtlinien 2000/31/EG oder 2001/29/EG hinaus weitere Eingriffe in die Kommunikationsfreiheit für nötig erachtet werden, sollten diese mit der gebotenen Konkretheit für die jeweiligen Sachverhalte gesondert geregelt werden.