940. Sitzung des Bundesrates am 18. Dezember 2015
A
Der federführende Rechtsausschuss (R) und der Gesundheitsausschuss (G) empfehlen dem Bundesrat, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
1. Zu Artikel 1 Nummer 2 ( § 64 Satz 2 StGB)
In Artikel 1 Nummer 2 ist in dem in § 64 Satz 2 einzufügenden Satzteil die Angabe "oder 3" zu streichen.
Begründung:
Mit der Änderung soll klargestellt werden, dass eine Unterbringung nach § 64 StGB nur dann angeordnet werden kann, wenn eine therapeutische Behandlung der Suchterkrankung innerhalb der von § 67d Absatz 1 Satz 1 StGB grundsätzlich bestimmten Höchstfrist von zwei Jahren Unterbringung erfolgversprechend erscheint. Dem Anliegen des Gesetzentwurfes, auf die bislang in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortete Frage, ob bei der nach § 64 Satz 2 StGB erforderlichen Behandlungsprognose auf die Unterbringungsdauer gemäß § 67d Absatz 1 Satz 1 oder Satz 3 StGB abzustellen ist,
eine klarstellende und rechtssichere Antwort zu geben, wird damit weiterhin entsprochen.
Für die hier vorgeschlagene Begrenzung der Behandlungsprognose auf die Frist des § 67d Absatz 1 Satz 1 StGB sprechen systematische und therapeutische Gründe.
Der Gesetzgeber hat mit der grundsätzlichen Begrenzung der suchtbedingten Unterbringungsdauer auf zwei Jahre deutlich gemacht, dass nicht jede Suchterkrankung eine Maßregelunterbringung rechtfertigt. Nur Erkrankungen, die innerhalb von zwei Jahren therapierbar erscheinen, sollen unter den Bedingungen des Maßregelvollzugs behandelt werden. Liegt bei der Person eine Suchterkrankung vor, die voraussichtlich länger als zwei Jahre behandelt werden muss, scheidet eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aus. Hierin liegt der qualitative Unterschied zu den unbefristeten Unterbringungen nach den §§ 63, 66 StGB: Psychische Krankheiten oder ein vergleichbarer "Hang zu erheblichen Straftaten" haben nach der gesetzgeberischen Wertung einen grundlegend anderen Stellenwert als (bloße) Suchterkrankungen. Suchterkrankungen sollen nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung in § 67d Absatz 1 Satz 1 StGB höchstens zwei Jahre Freiheitsentzug nach sich ziehen können. Weitergehende längere Behandlungsbedarfe rechtfertigen keinen weitergehenden Freiheitsentzug, sondern sind grundsätzlich außerhalb von Entziehungsanstalten zu versorgen.
Hiervon macht § 67d Absatz 1 Satz 3 StGB lediglich eine Ausnahme für den Fall, dass eine Begleitstrafe verhängt wurde. Diese, die Rechtsfolgenseite betreffende Ausnahme, erscheint insoweit sachgerecht, als die verurteilte Person ohnehin weiter im Freiheitsentzug verbleibt. Eine Begleitstrafe kann jedoch nicht Rechtfertigung dafür sein, die Anordnungsvoraussetzungen des § 64 StGB auszuweiten und - nur für eine bestimmte Personengruppe - auf Suchterkrankungen mit einer voraussichtlich länger als zwei Jahre dauernden Therapienotwendigkeit anzuwenden. Das Vorliegen einer Begleitstrafe stellt auch keinen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung dar, dass Erkrankungen, die einen erfolgreichen Therapieabschluss nicht binnen zwei Jahren erwarten lassen, zu einer Unterbringung nach § 64 StGB führen können, während dies bei ansonsten gleichen Krankheitsbedingungen ohne Begleitstrafe nicht möglich ist.
Die im Gesetzentwurf vorgesehene Regelung lässt außerdem eine weitere Aufweichung der Grenzen zwischen der befristeten Unterbringung nach § 64 StGB und der unbefristeten Unterbringung nach § 63 StGB befürchten und könnte mittelfristig Begehrlichkeiten dahin gehend wecken, die Höchstfrist von zwei Jahren nach § 67d Absatz 1 Satz 1 StGB an sich in Frage zu stellen. Schon in der Begründung des Gesetzentwurfes wird die Notwendigkeit gesehen, darauf hinzuweisen, dass die Neuregelung "nicht dahin gehend missverstanden werden [sollte], dass der Gesetzgeber einen prognostischen Behandlungszeitraum für sinnvoll hält, der einen Großteil oder gar die gesamte danach mögliche Unterbringungszeit ausschöpft". Gerade dieses Signal geht von der Neuregelung aber aus und wird die kritische Zunahme der Unterbringungen nach § 64 StGB weiter verschärfen. Auch der Hinweis in der Begründung des Gesetzentwurfes, wonach in Fällen, die die Neuregelung erfassen soll, andernfalls möglicherweise die unbefristeten Unterbringungen nach den §§ 63, 66 StGB angeordnet werden würden, spricht für eine deutlichere Abgrenzung der befristeten Maßregel nach § 64 StGB. Indem die Neuregelung gerade im Bereich der schweren Straftaten, die gleichzeitig vom Anwendungsbereich der §§ 63, 66 StGB erfasst sind, die Möglichkeit für langjährige - wenngleich weiterhin befristete - Unterbringungen nach § 64 StGB eröffnet, könnte die Einweisung in die eine oder andere Unterbringungsform vermehrt Gegenstand verfahrenstaktischer Überlegungen im Erkenntnisverfahren sein. Folge wäre eine weitere Zunahme von Fehleinweisungen in eine therapeutisch ungeeignete Unterbringungsform, deren Ausmaß schon heute besorgniserregend ist.
2. Zu Artikel 1 Nummer 3 (§ 67 Absatz 6 StGB)
Der Bundesrat bittet, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob es zur Vermeidung verfrühter oder wiederholter Befassungen der Vollstreckungsgerichte mit Anträgen auf Härtefallentscheidungen im Sinne des § 67 Absatz 6 StGB-E der Aufnahme einer Regelung bedarf, die den frühestmöglichen Zeitpunkt einer solchen Entscheidung bestimmt und die Festsetzung einer Sperrfrist für Folgeanträge erlaubt.
Begründung:
Die vorgesehene Änderung von § 67 StGB dient der Umsetzung verfassungsrechtlicher Vorgaben aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. März 2012 (2 BvR 2258/09), wonach § 67 Absatz 4 StGB mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes insoweit unvereinbar ist, als er es ausnahmslos - ohne eine Möglichkeit der Berücksichtigung von Härtefällen - ausschließt, die Zeit des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung auf Freiheitsstrafen aus einem anderen Urteil als demjenigen, in welchem diese Maßregel angeordnet worden ist, oder das bezüglich des die Maßregel anordnenden Urteils gesamtstrafenfähig ist ("verfahrensfremde Freiheitsstrafen"), anzurechnen.
Das gesetzgeberische Anliegen ist insoweit nachvollziehbar und wird in der Sache unterstützt. Angesichts der konkreten Ausgestaltung der Vorschrift bestehen jedoch Bedenken in Bezug auf zu erwartende, nicht unerhebliche Mehrbelastungen der Justiz durch verfrühte, wiederholte oder mißbräuchliche Anträge von Verurteilten auf Anrechnungsentscheidungen nach § 67 Absatz 6 StGB-E.
Zeiten des Maßregelvollzugs sind auf verfahrensfremde Strafen grundsätzlich nicht anrechnungsfähig; dabei wird es auch künftig verbleiben. Deshalb wird durch die Vollstreckungsbehörden in der Praxis häufig der teilweise Vorwegvollzug der verfahrensfremden Strafe(n) angeordnet, sodass bei einer späteren Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung auch der Rest der verfahrensfremden Strafe(n) aussetzungsfähig und somit eine gemeinsame Aussetzungsentscheidung möglich ist.
Dieser teilweise Vorwegvollzug verfahrensfremder Strafen ist für den Verurteilten insofern ungünstig, als jedenfalls diese Haftzeiten unbedingt zu verbüßen sind und durch Anrechnung von Maßregelzeiten nicht erledigt werden können.
Da der Gesetzentwurf nunmehr eine - wenn auch als Ausnahmeregelung gedachte - gesetzliche Vorschrift zur Anrechnung von Maßregelzeiten auf verfahrensfremde Strafen vorsieht, liegt die Vermutung nahe, dass eine Vielzahl von Verurteilten versuchen wird, die für sie ungünstige Anordnung des Vorwegvollzugs anzugreifen.
Dies ist besonders misslich, weil es hierfür künftig zwei - auch hinsichtlich des Rechtsweges - verschiedene, sich gegenseitig weder ausschließende noch zeitlich beschränkte Vorgehensweisen gäbe: Einerseits den an die Vollstreckungsbehörde gerichteten Antrag auf Änderung der Vollstreckungsreihenfolge (§ 44b StVollstrO) mit dem Ziel, zunächst die Maßregel vollstrecken zu lassen und gegebenenfalls später eine Härtefallentscheidung des Gerichts herbeiführen zu können, und andererseits den unmittelbaren Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 67 Absatz 6 StGB-E. Dadurch kann es zu unerwünschten Friktionen kommen, vor allem dann, wenn der Verurteilte bereits frühzeitig im Vollstreckungsverfahren entsprechende Anträge stellt.
Die Begründung des Gesetzentwurfes weist zwar zutreffend darauf hin, dass das Vorliegen eines Härtefalls grundsätzlich erst am Ende des Maßregelvollzugs feststellbar sein dürfte (Seite 25). Das hindert den Verurteilten jedoch nicht daran, bereits zuvor - und gegebenenfalls auch wiederholt - entsprechende Anträge zu stellen, über die das Gericht zu befinden hat.
Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, für die Entscheidung nach § 67 Absatz 6 StGB-E eine zeitliche Einschränkung in das Gesetz aufzunehmen. Zwar lässt sich das Ende des Maßregelvollzugs kaum vorhersehen; zumindest könnte aber geregelt werden, dass eine Anrechnung gemäß § 67 Absatz 6 StGB-E frühestens nach dem erstmaligen Ablauf der in § 67e Absatz 2 StGB bestimmten Fristen erfolgt. Vor den dort benannten Zeitpunkten dürfte ein Härtefall kaum jemals vorliegen. Ergänzend wäre es sinnvoll, § 67e Absatz 3 Satz 2 StGB in den Fällen des § 67 Absatz 6 StGB-E für entsprechend anwendbar zu erklären oder die letztgenannte Norm um eine ähnlich konzipierte Vorschrift zur gerichtlichen Festsetzung einer Sperrfrist zu erweitern.
3. Zu Artikel 2 Nummer 1 Buchstabe a (§ 463 Absatz 4 Satz 1 StPO)
Der Bundesrat bittet, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob eine gesetzliche Regelung notwendig ist, die die Behandlerinnen und Behandler der Maßregelvollzugseinrichtungen für die Abfassung ihrer Stellungnahmen, die sie vor der Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung zu fertigen haben, von der Schweigepflicht entbindet.
Begründung:
§ 463 Absatz 4 Satz 1 StPO stellt klar, dass für die jährliche Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 67e StGB) jeweils eine gutachterliche Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung einzuholen ist. Bei dieser Regelung handelt es sich nur um eine bloße Klarstellung, weil die Einrichtungen auch nach bisherigem Recht zu hören sind (§ 454 Absatz 1 Satz 2, § 463 Absatz 3 StPO, § 67d Absatz 2 StGB) und deshalb schon immer gutachterliche Stellungnahmen gefertigt haben. Angesichts der Anforderungen, denen solche Stellungnahmen zu genügen haben (vgl. hierzu BVerfG Beschluss vom 17. Februar 2014, 2 BVR 1795/12 u.a., bei juris Rn. 37 ff.), werden von den Maßregelvollzugseinrichtungen bei jeder Stellungnahme zwangsläufig Patientengeheimnisse zu offenbaren sein. Dabei geraten die Behandlerinnen und Behandler in Konflikt mit ihrer Schweigepflicht, die den Untergebrachten vor der Preisgabe von Daten zu Anamnese, Diagnose, therapeutischer Betreuung, seelischer Verfassung sowie persönlichem Charakter schützt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 2015, 2 BvR 2049/13, 2 BvR 2445/14, juris, Rn. 40). Die Begründung des Gesetzentwurfes ist bedenklich, soweit unter Rückgriff auf ältere Literaturzitate ausgeführt wird, dass die erforderliche Befugnis der Behandler zur Offenbarung dieser geschützten Daten allein aus der vorgesehenen Regelung folge (vgl. Seite 37 der Begründung des Gesetzentwurfes). Nach der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Januar 2015 (a.a. O.) erscheint eine gesetzliche Regelung zum Schutz der Behandlerinnen und Behandler geboten. Denn dieser Bundesverfassungsgerichtsentscheidung lag ein Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden (2 Ws 433/ 13) zugrunde, in dem es dieses für zutreffend erachtete, dass die Vollzugseinrichtung vom Fehlen einer Offenbarungsbefugnis ausging. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden zwar nicht, sondern ließ die Frage offen (vgl. BVerfG, a.a. O., Rn. 39) und wies darauf hin, dass der OLG-Senat im Rahmen des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung zumindest die Umstände hätte aufklären müssen, die nicht von der Schweigepflicht umfasst sind (vgl. BVerfG, a.a. O., Rn. 41 f.). Diese Begründung des Bundesverfassungsgerichts hinterlässt in der Praxis aber zwangsläufig erhebliche Unsicherheit über das Bestehen einer Schweigepflicht. Sie wäre vom Bundesverfassungsgericht sicher nicht gewählt, wenn es der Annahme gewesen wäre, dass die Behandlerinnen und Behandler Patientengeheimnisse offenbaren dürfen. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Januar 2015 ist ferner - auch das sollte Anlass für eine gesetzliche Regelung sein - zu entnehmen, dass der Generalbundesanwalt ebenfalls von einer Schweigepflicht der Behandlerinnen und Behandler ausgeht (vgl. BVerfG, a.a. O. Rn. 19).
Dass eine ausdrückliche Befugnisnorm notwendig ist, zeigen schließlich die Regelungen im Strafvollzugsgesetz. Dort gibt es entsprechende Regelungen für den Strafvollzug ( § 182 StVollzG) und die Sicherungsverwahrung ( § 130 StVollzG). Für den Vollzug der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus enthält das Strafvollzugsgesetz indes keine Regelung (vgl. § 138 Absatz 1 Satz 1 StVollzG).
Zur Absicherung der Behandlerinnen und Behandler sollte daher - beispielsweise nach dem Vorbild des § 68a Absatz 8 StGB (Schweigepflicht der forensischen Ambulanzen) - eine gesetzliche Regelung geschaffen werden.
B
4. Der Finanzausschuss empfiehlt dem Bundesrat, gegen den Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes keine Einwendungen zu erheben.