A. Problem und Ziel
Der Familiennachzug stellt einen wesentlichen Faktor für die Integration von Ausländerinnen und Ausländern im Bundesgebiet dar, da er soziokulturelle Stabilität schafft und so das Einleben der Betroffenen in die hiesigen Lebensverhältnisse erleichtert. Dem wird das gegenwärtige Aufenthaltsrecht an mehreren Stellen nicht hinreichend gerecht. So finden sich Nachzugsrestriktionen, deren aufenthaltsrechtliche Zwecksetzung fraglich oder deren Wirkung nicht belegt ist. Der Familiennachzug ist in bestimmten Fallkonstellationen nur unter erschwerten Bedingungen möglich, was unter humanitären Gesichtspunkten oft zu unvertretbaren familiären Situationen führt. Dem muss im Rahmen bestehender unions- und verfassungsrechtlicher Vorgaben im Wege einer Novellierung der Regeln zum Familiennachzug Rechnung getragen werden.
B. Lösung
Die Novellierung des Rechts des Familiennachzuges erfolgt auf Grund verfassungs- und unionsrechtlicher Vorgaben innerhalb des bestehenden Systems der §§ 27 ff. des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Sachlich nicht gerechtfertigte Nachzugsbeschränkungen wie der Ausschluss des Familiennachzugs zu Inhaberinnen und Inhabern bestimmter humanitärer Aufenthaltstitel oder unter Umständen sogar des Ehegattennachzugs zu einer oder einem Deutschen sollen beseitigt werden. Daneben wird der in § 36 AufenthG geregelte Familiennachzug nun auch minderjährigen ledigen Geschwistern ermöglicht.
C. Alternativen
Keine
D. Finanzielle Auswirkungen
Die genauen Bürokratiekosten für den Vollzug des Gesetzes sind nicht bezifferbar.
Eine unmittelbare Erhöhung der Kosten für das öffentliche Sozialsystem durch die erweiterte Zulassung des Familiennachzuges ist kaum zu erwarten. Das Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung bleibt - mit Ausnahmen im Bereich des § 36 Absatz 2 AufenthG - bestehen. Soweit das Gesetz den Familiennachzug ohne hinreichende Sicherung des Lebensunterhalts zulässt, beruht dies auf verfassungsrechtlich (Art. 6 Absatz 1 des Grundgesetzes) oder unionsrechtlich (Art. 4 Absatz 1 bis 3 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 vom 3.10.2003, S. 12)) zwingend zu beachtenden Gründen. Insofern kann es durch das Gesetz zu einer höheren Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen kommen, die jedoch derzeit nicht bezifferbar ist. Zudem kann der Verwaltungsaufwand bei der Titelerteilung in diesen Fällen regelmäßig nicht mittels Erhebung einer Verwaltungsgebühr ausgeglichen werden (vgl. § 53 Absatz 1 der Aufenthaltsverordnung).
E. Sonstige Kosten
Keine
Gesetzesantrag des Landes Berlin
Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung des Familiennachzuges
Der Regierende Bürgermeister von Berlin Berlin, 8. September 2020
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Dietmar Woidke
Sehr geehrter Herr Präsident,
der Senat von Berlin hat beschlossen, dem Bundesrat den als Anlage mit Begründung beigefügten Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung des Familiennachzuges mit dem Antrag zuzuleiten, seine Einbringung beim Deutschen Bundestag zu beschließen.
Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 993. Sitzung des Bundesrates am 18. September 2020 zu setzen und sie anschließend den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Müller
Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung des Familiennachzuges
Vom ...
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Artikel 169 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:
1. § 28 Absatz 1 wird wie folgt geändert:
- a) In Satz 1 werden vor den Wörtern "zu erteilen, wenn" die Wörter "abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1" eingefügt.
- b) Die Sätze 2 und 3 werden aufgehoben.
- c) Die bisherigen Sätze 4 und 5 werden Satz 2 und 3.
2. In § 29 Absatz 3 Satz 1 werden die Wörter "den §§ 22, 23 Absatz 1 oder Absatz 2 oder" gestrichen.
3. In § 36 Absatz 1 werden nach den Wörtern "Den Eltern" die Wörter "und den mit ihnen in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden oder voraussichtlich lebenden minderjährigen ledigen Geschwisterteilen" eingefügt.
Artikel 2
Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
Begründung
Zu Nummer 1 ( § 28 Absatz 1 AufenthG)
Der Nachzug von minderjährigen ledigen Kindern einer oder eines Deutschen sowie eines Elternteils einer oder eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge wird bereits nach geltendem Recht ausnahmslos ohne eine Prüfung der Sicherung des Lebensunterhalts zugelassen.
Nach § 28 Absatz 1 Satz 3 AufenthG a.F. kann der Ehegattennachzug zu Deutschen hingegen bei Vorliegen besonderer Umstände von der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Absatz 1 Nummer 1) abhängig gemacht werden. Gemäß der früheren Gesetzesbegründung soll dies insbesondere bei Doppelstaatlerinnen und Doppelstaatlern in Bezug auf das Land in Betracht kommen, dessen Staatsangehörigkeit sie neben der deutschen besitzen, oder bei Deutschen, die geraume Zeit im Herkunftsland des Ehegatten gelebt und gearbeitet haben und die Sprache dieses Staates sprechen (vgl. BT-Drs. 016/5065 vom 23.04.2017, S. 171).
Diese Regelung behandelt also deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihrem vorherigen Wohnsitz unterschiedlich. Daher ist sie mit Art. 3 Absatz 3 Satz 1 GG nicht vereinbar (Huber AufenthG/Göbel-Zimmermann/Eichhorn, 2. Aufl. 2016, AufenthG § 28, Rn. 3; Markard/Truchseß, NVwZ 2007, 1025 (1027); BeckOK AuslR/Tewocht, 25. Ed. 1.3.2020, AufenthG § 28 Rn. 14).
Zudem dürfen deutsche Staatsangehörige grundsätzlich nicht darauf verwiesen werden, ihre Ehe im Ausland zu führen. Das Grundrecht des Art. 11 GG gewährt ihnen - anders als Ausländerinnen und Ausländern - das Recht zum Aufenthalt in Deutschland. Dies gilt gleichermaßen für den Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen, die eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen (BVerwG, Urteil vom 4.9.2012 - BVerwG 10 C 12.12 -, juris, LS 2 und 3). Zwar kann deutschen Staatsangehörigen bei gewichtigen öffentlichen Belangen zugemutet werden, die Ehe für einige Zeit gar nicht oder nur im Ausland zu führen. Sie dauerhaft im Ausland führen zu müssen, ist für sie aber in jedem Fall unangemessen und unzumutbar (BVerwG, Urteil vom 4.9.2012 - BVerwG 10 C 12.12 -, juris, Rn. 26).
Aufgrund der verfassungsrechtlichen Unvereinbarkeit des Satzes 3 mit Art. 3 Absatz 3 Satz 1 GG sowie Art. 11 GG soll die ist-Regelung des bisherigen Satzes 2, der bisher nur für die Fälle des Satzes 1 Nummer 2 (minderjähriges lediges Kind einer oder eines Deutschen) und Nummer 3 (Elternteil einer oder eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge) gilt, auch für Fälle des Satzes 1 Nummer 1 (Ehegatten einer oder eines Deutschen) angewendet werden, was durch die Neufassung des Satzes 1 geschieht. Als zwingende Folgeänderungen werden die bisherigen Sätze 2 und 3 aufgehoben, die bisherigen Sätze 4 und 5 werden Satz 2 und 3.
Zu Nummer 2 (§ 29 Absatz 3 AufenthG)
Gemäß § 29 Absatz 3 Satz 1 AufenthG a.F. darf Ehegatten und minderjährigen Kindern von Ausländerinnen oder Ausländern, die eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 22, 23 Absatz 1 oder Absatz 2 besitzen, eine Aufenthaltserlaubnis "nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland" erteilt werden. Diese Gründe decken sich weitgehend mit den Voraussetzungen der §§ 22, 23 Absatz 1 und 2 AufenthG selbst. Wenn für die oder den Stammberechtigten das Vorliegen von völkerrechtlichen oder humanitären Gründen für eine Aufenthaltserlaubnis bereits festgestellt wurde oder die Aufenthaltserlaubnis der Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland dient, so ist nicht zu rechtfertigen, warum für den Nachzug von Familienangehörigen dieselben Gründe für diese ebenfalls vorliegen müssen oder warum - im Umkehrschluss - den Stammberechtigten im Widerspruch zu diesen Gründen zuzumuten sein soll, ihre Familie im Ausland zusammenzuführen. Besitzt die oder der Stammberechtigte ein solches Aufenthaltsrecht, so ist der Familiennachzug nach den allgemein hierfür geltenden Regelungen zuzulassen.
Zu Nummer 3 (§ 36 Absatz 1 AufenthG)
Mit der vorgesehenen Änderung in § 36 Absatz 1 AufenthG wird der Geschwisternachzug zu unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländern (umA) zugelassen und damit einem erheblichen Rechtsproblem aus der aufenthaltsrechtlichen Praxis begegnet. Die nach der bisherigen Rechtslage unter humanitären Gesichtspunkten nicht vertretbare Situation, dass die Eltern von umA entweder auf ihr Nachzugsrecht verzichten und im Herkunftsland bei dem Geschwisterteil der umA verbleiben oder diesen - oftmals in Krisengebieten - zurücklassen, wird dadurch beseitigt. Auch die ebenfalls humanitär nicht vertretbare Konfliktsituation, die bisher entstanden ist, wenn nur ein Elternteil zu dem minderjährigen Kind in Deutschland nachgezogen und der andere Elternteil bei dem Geschwisterteil verblieben ist, wird aufgelöst. Die Zulassung der Familienzusammenführung in diesen Fällen ist durch Art. 10 Absatz 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie (2003/86/EG) gedeckt. Auf das dort genannte Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung wird verzichtet, da die Zulassung der Familienzusammenführung durch Art. 8 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geboten ist (vgl. den 2. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86/EG).
Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten.