Der Niedersächsische Ministerpräsident Hannover, 8. September 2016
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Stanislaw Tillich
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierungen von Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Thüringen haben beschlossen, dem Bundesrat die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates
Für ein Einwanderungsgesetz: Einwanderung offensiv gestalten und effektiv regeln zuzuleiten.
Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates in die Tagesordnung der 948. Sitzung des Bundesrates am 23. September 2016 aufzunehmen und eine sofortige Sachentscheidung herbeizuführen.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Weil
Entschließung des Bundesrates
Für ein Einwanderungsgesetz: Einwanderung offensiv gestalten und effektiv regeln
Der Bundesrat möge folgende Entschließung fassen:
Deutschland braucht Einwanderung. Aufgrund der demografischen Entwicklung ist absehbar, dass die Zahl der Erwerbsfähigen in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten deutlich sinken wird. Daneben wird der Bedarf an - akademischen wie nichtakademischen - Fachkräften steigen.
Diese Umstände sind schon Grund genug, die Neuzuwanderung von Arbeitskräften aus dem nichteuropäischen Ausland in einem Gesetz mit realistischen und realisierbaren Anforderungen zu regeln.
Hinzukommt, dass die bitteren Erfahrungen insbesondere im zweiten Halbjahr des vergangenen Jahres gezeigt haben, dass die für die Betroffenen oft lebensgefährliche irreguläre Asylmigration nach Europa kein geeigneter Weg sein kann, Einwanderung nach den Interessen und Bedürfnissen beider Seiten zu gestalten. Dabei steht außer Frage, dass Deutschland wie bisher zu seinen rechtlichen und moralischen Verpflichtungen gegenüber all jenen steht, die vor Krieg und Verfolgung geschützt werden müssen.
Eine wirksame Reduzierung irregulärer und damit nur sehr bedingt steuerbarer Migrationsströme ist jedoch nur möglich, wenn neben diesem Weg auch legale Zuwanderungsmöglichkeiten geschaffen werden. Dies liegt im ureigenen deutschen Interesse, um attraktiver zu werden für qualifizierte und talentierte Fachkräfte, die wir in Zukunft unabweisbar brauchen werden.
Ganz Europa ist ein alternder Kontinent, dessen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft und im nächsten Jahrzehnt voraussichtlich um 18 Millionen abnehmen wird. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union können auf eine besser gesteuerte Arbeitskräftemigration nicht verzichten. Deutschland ist das wichtigste Einwanderungsland in Europa. Das ist eine Chance, die Gestaltung verlangt. Einwanderung orientiert sich neben arbeitsplatzbezogenen Kriterien auch an weiteren Faktoren, wie einem attraktiven kulturellen und sozialen Umfeld oder an Unterstützungsleistungen für die Integration, etwa beim Erlernen der Sprache.
Aktuell findet Einwanderung ganz überwiegend aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union statt, die wegen der garantierten Freizügigkeit im europäischen Binnenraum allerdings nicht steuerbar ist. Auch wenn Deutschland in den vergangenen Jahren sein Arbeitsmigrationsrecht für Drittstaatsangehörige schrittweise liberalisiert und im Bereich der Hochqualifizierten bereits weitgehend geöffnet hat, sind zur Sicherung der Fachkräftebasis weitere Anstrengungen erforderlich. Die Öffnung des Arbeitsmarktes in definierten Engpassberufen ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Für die Sicherung des Wohlstandes unseres Landes ist es unerlässlich, dass der Wirtschaft auch zukünftig die benötigten Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.
Aus diesem Grund müssen die Bestimmungen über die Arbeitsmigration reformiert und transparent gestaltet werden.
Ein modernes Migrationsrecht kann sich aber nicht auf Veränderungen im Aufenthaltsrecht beschränken, sondern muss ebenfalls arbeitsmarkt- und sozialpolitische Regelungen definieren. Zudem muss durch die Schaffung legaler Einwanderungsmöglichkeiten im Rahmen gesteuerter Einwanderung das hochbeanspruchte Asylsystem entlastet werden. Menschen, die zwar nicht vor Verfolgung oder Bürgerkrieg aber aus anderen menschenrechtlich bedenklichen Umständen fliehen, werden letztlich von der Nutzung lebensgefährlicher Fluchtrouten und ungesteuerter Einreise nur abgehalten werden können, wenn es Alternativen hierzu gibt.
Es bedarf einer breiten gesellschaftlichen Debatte über die Einwanderung und die Veränderungen, die damit einhergehen. Ein Grundverständnis in der Bevölkerung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und Einwandererinnen und Einwanderer hier willkommen sind, ist notwendig. Es muss offensiv dafür geworben werden, dass sie gleichberechtigte Staatsbürgerinnen und -bürger werden, sich einbürgern lassen und aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirken können.
Es gilt, die Rahmenbedingungen für Einwanderung attraktiver zu gestalten, damit gut ausgebildete Menschen zu uns kommen und dauerhaft mit ihren Familien bei uns verbleiben.
Der Bundesrat fordert vor diesem Hintergrund die Bundesregierung auf, einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorzulegen und dabei folgende Eckpunkte zu berücksichtigen:
- 1. Im Einwanderungsgesetz werden sämtliche Regelungen für die arbeitsmarktbezogene Einwanderung zusammengefasst. Das Gesetz muss für Außenstehende - potenzielle Einwanderinnen und Einwanderer, aber auch potenzielle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber - klar verständlich gefasst sein und verlässliche Rahmenbedingungen bieten. Das damit zusammenhängende Beratungsangebot ist zu verbessern.
- 2. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens ist eine breite gesellschaftliche Verständigung erforderlich, in welchen Bereichen Deutschland einen Bedarf an Einwanderung hat und mit welchen kriteriengeleiteten Steuerungsmodellen die Einwanderung aus Drittstaaten langfristig bedarfsgerecht gesteuert werden soll. Dabei sollen auch Arbeitsmigrationsmodelle anderer Staaten (z.B. Punktesystem) ausgewertet werden. Das Einwanderungsgesetz honoriert vorhandene Qualifikationen von Einwanderungswilligen.
- 3. Das Einwanderungsgesetz soll durch nachvollziehbare, aktuell zu erhebende Indikatoren Engpassberufe definieren, die nicht mit dem inländischen Fachkräftepotenzial gedeckt werden können. Regionale Differenzierungen sind möglich. Dazu verzichtet es auf individuelle Vorrangprüfungen.
- 4. Das Einwanderungsgesetz ermöglicht einen unkomplizierten Familiennachzug. Es gibt keine Pflicht, dass Ehe- und Lebenspartner bereits vor der Einreise Deutschkenntnisse nachweisen müssen. Der Erwerb der deutschen Sprache wird konsequent angeboten, gefördert und gefordert. Den Familienangehörigen wird genauso wie den Arbeitsmigrantinnen und -migranten der Zugang zu einem unbefristeten Aufenthaltsrecht unter erleichterten Voraussetzungen gewährt und eine realistische Perspektive für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit eröffnet. Mehrstaatigkeit soll regelmäßig akzeptiert werden. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit von in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern soll verbessert werden.
- 5. Das Einwanderungsgesetz richtet sich nicht ausschließlich an hoch qualifizierte Arbeitskräfte, sondern berücksichtigt die Arbeitsmarkteinwanderung auch über andere Qualifikationsniveaus, z.B. im Rahmen von Kontingentlösungen. Es soll geprüft werden, unter welchen Bedingungen qualifizierten Fachkräften aus Drittstaaten eine zeitlich befristete Aufenthaltsmöglichkeit zum Zweck der Arbeitsplatzsuche eingeräumt werden könnte.
- 6. Das inländische Arbeitskräftepotenzial ist zu berücksichtigen und auszuschöpfen. Es ist darauf zu achten, dass durch die Einwanderung von Arbeitskräften keine Verschlechterung bei den Arbeitsbedingungen und keine Absenkung des Lohnniveaus eintreten. Arbeitsausbeutung und illegale Beschäftigung muss durch wirkungsvolle Kontrolle begegnet werden. Die vollständige Abschaffung der sogenannten Vorrangprüfung für bereits in Deutschland lebende Asylsuchende und Geduldete ist zu prüfen.
- 7. Mit einer weiteren Öffnung des Arbeitsmarktes müssen die Informations- und Beratungsangebote im In- und Ausland ausgebaut und in mehreren Sprachen vorgehalten werden. Die deutschen Auslandsvertretungen und die Ausländerbehörden müssen eine organisatorische Weiterentwicklung hin zu Einwanderungsbehörden erfahren. Die Visaverfahren müssen vereinfacht werden.
- 8. Die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit sollte verstärkt im Ausland tätig werden, um gezielt in den Mangel- und Engpassberufen für die Einwanderungsmöglichkeiten zu werben. Ferner sollten mit den Arbeitsverwaltungen anderer Länder konkrete Vermittlungsabsprachen getroffen werden, um (z.B. in den Gesundheitsberufen) Personen mit entsprechenden Vorqualifikationen in Deutschland weiter zu qualifizieren, damit diese die erforderliche Berufszulassung erhalten.
- 9. Die Möglichkeiten des Erwerbs der deutschen Sprache sind im In- und Ausland zu verbessern. Hierzu gehört der Ausbau des deutschen Auslandsschulwesens ebenso wie die Verbreiterung des Kursangebots der Goethe-Institute.
- 10. Eine gesteuerte Einwanderung im Rahmen eines neuen Einwanderungsgesetzes macht es aber auch erforderlich, abgelehnte Asylsuchende auf die Regelungen über die legale Einwanderung zu verweisen. Gleichwohl kann es gerechtfertigt sein, für spezielle Bereiche einen Aufenthaltszweckwechsel ("Spurwechsel") zuzulassen.