A. Problem
- In Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben hat die Justiz in den vergangenen Jahren auf Grund zahlreicher Gesetzesänderungen eine Vielzahl wichtiger Aufgaben zusätzlich übernommen.
- Die Belastung der Justiz ist hoch. Sie arbeitet schon seit längerem am Rande ihrer Belastbarkeit sowohl hinsichtlich ihrer personellen als auch materiellen Ressourcen. Deshalb sind in der rechtspolitischen Diskussion seit vielen Jahren Vorschläge unterbreitet worden, wie Strafverfahren ohne Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung und der berechtigten rechtsstaatlichen Interessen der Bürger zu beschleunigen und zu straffen sind.
- Strukturelle Reformen wurden bereits insbesondere mit dem Entwurf eines 2. Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (strafrechtlicher Bereich; BT-Drs. 013/4541) gefordert, ohne dass die dortigen Vorschläge vom Gesetzgeber in dem notwendigen Umfange aufgegriffen worden wären.
- Der Vorschlag der Einführung des Wahlrechtsmittels in die Strafprozessordnung war bereits im Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Verfahren der Justiz (Justizbeschleunigungsgesetz; BT-Drs. 015/1491) vorgesehen und dort mit der Abschaffung der sog. Sprungrevision in dem Bereich der Annahmeberufung verbunden. Der Gesetzentwurf wurde jedoch abgelehnt.
- Die Justizministerinnen und Justizminister haben dies zum Anlass genommen, auf ihrer Konferenz vom 1. bis 2. Juni 2006 in Erlangen im Rahmen des Projekts "Große Justizreform" durch Beschluss zu empfehlen, neben dem Reformvorschlag der Erweiterung des Anwendungsbereichs der Annahmeberufung auch die Einführung des Wahlrechtsmittels umzusetzen.
- Während der Vorschlag der Erweiterung des Anwendungsbereichs der Annahmeberufung durch den Entwurf eines Gesetzes zur Effektivierung des Strafverfahrens (BR-Drs. 660/06 (PDF) ) in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde steht dies hinsichtlich der Einführung des Wahlrechtsmittels noch aus.
- Es besteht insoweit - auch mit Blick auf das nachhaltige Drängen der Praxis - noch ein dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
B. Lösung
- Es wird die Einführung des Wahlrechtsmittels in die Strafprozessordnung vorgeschlagen. Diese Änderung im Rechtsmittelrecht soll allerdings erfolgen, ohne dass damit Einschränkungen in der Zulässigkeit der Wahlrevision im Bereich des Anwendungsbereichs der Annahmeberufung verbunden sind.
C. Alternativen
Der Vorschlag der Erweiterung des Anwendungsbereichs der Annahmeberufung durch den Entwurf eines Gesetzes zur Effektivierung des Strafverfahrens (BR-Drs. 660/06 (PDF) ) erfasst lediglich einen Teilbereich der notwendigen Reform im Strafverfahren und geht daher nicht weit genug.
D. Finanzielle Auswirkungen
- 1. Haushaltsausgaben ohne Vollzugsaufwand
Keine.
- 2. Vollzugsaufwand
Der Gesetzentwurf soll einen Ausgleich schaffen für zahlreiche Mehrbelastungen, die die Justiz zu bewältigen hat. Eine verlässliche Einschätzung des Umfangs der mit dem Entwurf eventuell einhergehenden Einsparungen ist wegen der Schwierigkeit der Ermittlung des dafür erforderlichen Zahlenmaterials nicht möglich.
E. Sonstige Kosten
Gesetzesantrag des Landes Schleswig-Holstein
Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Wahlrechtsmittels in die Strafprozessordnung
Ministerium für Justiz, Kiel, den 25. Juni 2007
Arbeit und Europa des Landes Schleswig-Holstein
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Harald Ringstorff
Sehr geehrter Herr Präsident,
die schleswigholsteinische Landesregierung hat in ihrer Sitzung am 19. Juni 2007 beschlossen dem Bundesrat den als Anlage mit Begründung beigefügten
mit der Bitte zuzuleiten, die Einbringung beim Deutschen Bundestag gemäß Art. 76 Abs. 1 Grundgesetz zu beschließen.
Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 835. Sitzung des Bundesrates am 6. Juli 2007 zu setzen.
Mit freundlichen Grüßen
Uwe Döring
Minister
Anlage Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Wahlrechtsmittels in die Strafprozessordnung
Vom ...
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Die Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), zuletzt geändert durch ..., wird wie folgt geändert:
- 1. § 333 wird wie folgt gefasst:
" § 333
- (1) Gegen die Urteile der Strafrichter, der Schöffengerichte, der Strafkammern und der Schwurgerichte sowie gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Urteile der Oberlandesgerichte ist Revision zulässig.
- (2) Wer eine zulässige, im Falle des § 313 statthafte Berufung eingelegt hat kann gegen das Berufungsurteil nicht mehr Revision einlegen. Hat der Angeklagte oder der gesetzliche Vertreter eine zulässige, im Falle des § 313 statthafte Berufung eingelegt, so steht gegen das Berufungsurteil keinem von ihnen das Rechtsmittel der Revision zu.
- (3) Legt gegen das Urteil ein Beteiligter Revision und ein anderer Berufung ein so wird, solange die Berufung nicht zurückgenommen oder als unzulässig verworfen ist, die rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form eingelegte Revision als Berufung behandelt. Die Revisionsanträge und deren Begründung sind gleichwohl in der vorgeschriebenen Form und Frist anzubringen und dem Gegner zuzustellen (§§ 344 bis 347)."
- 2. § 335 wird aufgehoben.
§ 121 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b des Gerichtsverfassungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), zuletzt geändert durch ..., wird wie folgt gefasst:
- b) die Urteile der Strafrichter, der Schöffengerichte sowie die Berufungsurteile der kleinen und großen Strafkammern;
Artikel 3
Inkrafttreten
- Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
Begründung:
A. Allgemeiner Teil
Durch die Einführung des Wahlrechtsmittels wird der Widerspruch beseitigt, dass nach geltendem Recht bei Verfahren, die beim Amtsgericht ihren Ausgang nehmen, drei Instanzen zur Verfügung stehen, bei Sachen, die erstinstanzlich vor dem Landgericht verhandelt werden und damit in der Regel schwerwiegender sind, aber nur zwei. Gleichzeitig sollen aber die Vorteile des geltenden Rechtsmittelsystems in Strafsachen gewahrt bleiben. Bewährt hat sich insbesondere, dass eine große Zahl von Strafverfahren vor dem Amtsgericht rechtskräftig erledigt wird, ohne dass das amtsgerichtliche Verfahren aufwändig wäre. Entscheidend ist dabei das Bewusstsein aller Beteiligten, durch eine Einlegung der Berufung ggf. erreichen zu können, dass vor dem Landgericht eine vollständige neue Hauptverhandlung durchgeführt wird. Das führt dazu, dass die große Masse der Verfahren vor dem Amtsgericht verfahrensökonomisch erledigt werden kann. Hauptvorteil des Wahlrechtsmittels ist es, dass sich hieran nichts ändert.
Im Jugendstrafrecht hat sich das Wahlrechtsmittel seit langem bewährt; mit dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht ist das Wahlrechtsmittel nach § 55 Abs. 2 JGG nicht so eng verknüpft, dass dies einer Übernahme in das allgemeine Strafverfahren entgegenstünde.
Der Einwand, dass das Wahlrechtsmittel zu einer größeren Belastung bei den Amtsgerichten führen könnte, weil diese sich mehr als bisher gezwungen sehen könnten ihr Urteil "revisionssicher" abzufassen, greift nach den Erfahrungen im Jugendstrafrecht nicht durch. In aller Regel wird es für den Rechtsmittelführer attraktiver sein Berufung und nicht Revision einzulegen. Ein weiterer Vorteil des Wahlrechtsmittels dürfte es sein, dass in der Berufungsinstanz für den Berufungsführer der Anreiz zu solchen Anträgen entfällt, die lediglich den Boden für eine Revision bereiten sollen. Die Einführung des Wahlrechtsmittels wird im Übrigen rasch wirksam weil sie nicht mit Komplikationen organisatorischer und rechtlicher Art verbunden ist.
Gegen die Möglichkeit der Wahlrevision im Anwendungsbereich der Annahmeberufung könnte sprechen, dass in diesem Falle der Angeklagte möglicherweise bestrebt ist verstärkt Revision einzulegen, um den Schwierigkeiten der Annahmeberufung auszuweichen. Aus diesem Grunde wurde in Artikel 2 Nr. 34 des Gesetzentwurfs des Bundesrates für ein Gesetz zur Beschleunigung von Verfahren der Justiz (Justizbeschleunigungsgesetz) (BT-Drs. 015/1491) diese Möglichkeit im Bereich der Annahmeberufung ausgeschlossen. Es ist jedoch kein zwingender Grund dafür ersichtlich, die Rechtsmittelmöglichkeiten im Bereich der erstinstanzlichen Verurteilungen, die berufungsrechtlich annahmepflichtig sind, noch weiter einzuschränken, um eine vermeintlich stärkere Inanspruchnahme des Revisionsgerichts in diesem Bereich zu vermeiden. Ein stärkeres Ausweichen auf das Rechtsmittel der Revision ist nicht mit Sicherheit zu erwarten, da in vielen Fällen auf Grund des höheren Begründungsaufwandes zumindest bei der revisionsrechtlichen Verfahrensrüge sowie auf Grund der insgesamt geringeren Erfolgsquote der Revision diese trotz des Annahmeerfordernisses der Berufung auch weiterhin vergleichsweise selten gewählt werden dürfte. Dabei ist auch zu bedenken, dass die derzeit zu verzeichnende starke Nichtannahmepraxis im Falle der Ausdehnung des Anwendungsbereiches der Annahmeberufung von den Gerichten in diesem Maße möglicherweise nicht fortgesetzt wird. Es kommt hinzu, dass bei der Streichung der Wahlmöglichkeit im Bereich der annahmeberufungspflichtigen Fälle - zumal bei der gesetzlichen Ausweitung der Annahmeberufung - der Rechtsschutz in einem nach rechtsstaatlichen Maßstäben nicht mehr vertretbaren Maße eingeschränkt wäre.
Die Fälle der Annahmeberufung sind daher so zu behandeln, wie die anderen Fälle der berufungsrechtlich nicht annahmepflichtigen erstinstanzlichen Verurteilungen auch: mit einer echten Wahlmöglichkeit zwischen (Annahme)Berufung und Revision. Aus diesem Grunde sieht der Gesetzentwurf keine Abschaffung der Wahlrevision im Bereich der Annahmeberufung vor.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einführung des Wahlrechtsmittels ggf. in Kumulation mit der Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Annahmeberufung - letztere wird mit dem Gesetzentwurf zur Effektivierung des Strafverfahrens (vgl. BR-Drs. 660/06 (PDF) ) angestrebt - bestehen nicht, da ein mehrzügiger Instanzenzug von Artikel 19 Abs. 4 GG und dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht gewährleistet wird (vgl. BVerfGE 107, 395 (403 m.w.N.)) und daher die durch den Entwurf angestrebte Lösung nicht in Frage stellt. Zudem ist der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und damit der Rechtseinheit gewahrt, da zum Einen die Möglichkeit der Wahlrevision besteht und zum Anderen auch nach der Entscheidung des Berufungsgerichts die jeweils andere Seite noch von dem Rechtsmittel der Revision Gebrauch machen kann.
B. Besonderer Teil
Durch diese Änderung wird § 333 StPO insgesamt neu gefasst. § 333 Abs. 1 StPO-E normiert die Zulässigkeit der (Wahl)Revision auch gegen Urteile des Amtsgerichts.
§ 333 Abs. 2 StPO-E regelt die Einführung des sog. Wahlrechtsmittels und greift insoweit auf die bewährte Regelung in § 55 Abs. 2 JGG zurück. § 333 Abs. 2 Satz StPO-E bezweckt - wie § 55 Abs. 2 Satz 2 JGG - die wechselseitige Zurechnung einer Berufungseinlegung durch die genannten Verfahrensbeteiligten; insoweit kann aber eine Beschränkung auf die im Erwachsenenstrafverfahren Beteiligten, nämlich Angeklagte und gesetzliche Vertreter erfolgen. § 333 Abs. 2 Satz 1 StPO-E verändert für den Fall der Annahmeberufung den Begriff der "Zulässigkeit" auf den Begriff der "Statthaftigkeit", um schon über den Wortlaut zu gewährleisten, dass auch nach einer Nichtannahmentscheidung gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO (Verwerfung als "unzulässig") keine Revision mehr möglich ist.
Da es im Bereich des Wahlrechtsmittels begrifflich keine Sprungrevision mehr geben kann ist die Vorschrift des § 335 StPO zu streichen, ihr partieller Regelungsgehalt, soweit er auf die Wahlrevision anwendbar ist, jedoch in § 333 StPO-E zu übernehmen:
- a) Dies geschieht hinsichtlich des § 335 Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO in der Weise, dass in § 333 Abs. 3 StPO-E insoweit das Verfahren bei verschiedenartiger Anfechtung durch mehrere Verfahrensbeteiligte normiert wird.
- b) Aus der ersatzlosen Streichung des § 335 Abs. 1 StPO folgt zudem, dass im Bereich der Annahmeberufung aus den oben unter A. dargelegten Gründen eine Einschränkung der Zulässigkeit des Rechtsmittels der Wahlrevision nicht besteht.
Weiterer legislatorischer Regelungsbedarf, welcher insbesondere durch die Besonderheiten im Verhältnis von Annahmeberufung zu Wahlrevision bedingt wäre, besteht nicht, da insoweit § 333 Abs. 3 Satz 1 StPO-E (vgl. § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO) auch das Verhältnis von Annahmeberufungs- und Revisionseinlegung erfasst (vgl. OLG Stuttgart NJW 2002, 3487 (3488)). Danach ist die nunmehr als Berufung zu behandelnde Revision ebenfalls als annahmebedürftig anzusehen (vgl. OLG Stuttgart a.a.O.; Frisch, in: SK StPO, 31. Lieferung (Mai 2003), § 335 Rdnr. 29). Sollte die (ursprüngliche) Berufung angenommen werden, wäre über die Annahme der (zunächst als Revision) eingelegten Berufung zu entscheiden.
Würde hingegen die (ursprüngliche) Berufung nicht angenommen werden, so lebte die Revision wieder auf, und dies selbst dann, wenn diese mittlerweile als Berufung nicht angenommen wurde (vgl. OLG Stuttgart a.a.O.). Denn einem Beschwerdeführer, der allein an einer revisionsrechtlichen Überprüfung interessiert ist darf diese Möglichkeit nicht dadurch genommen werden, dass ein anderer Beschwerdeführer eine Berufung einlegt, die sich dann durch Nichtannahme erledigt (vgl. Frisch, a.a.O., Rdnr. 30; Meyer-Goßner, a.a.O.). Dieser Grundsatz muss auch im Wahlrechtsmittelsystem gelten, da auch hier anerkannt ist, dass ein Verfahrensbeteiligter, der gegen das erstinstanzliche Urteil Revision eingelegt hatte, sein Revisionsrecht behält, wenn sein Rechtsmittel als Berufung behandelt wurde, weil ein anderer Verfahrensbeteiligter Berufung eingelegt hat (vgl. BayObLG NStZRR 2001, 49 m.w.N.).
- c) § 335 Abs. 3 Satz 3 StPO ist, da sein Wortlaut auch demjenigen die Revision ermöglicht der ursprünglich Berufung eingelegt hatte, im Wahlrechtsmittelverfahren aufzuheben.
Der mit der Einführung der Wahlrevison verbundene Wegfall des § 335 StPO macht eine Änderung des § 121 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG notwendig, um die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts auch für die Wahlrevision zu normieren. § 121 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG-E regelt daher die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für Revisionen gegen Urteile des Amtsgerichts und belässt seine Zuständigkeit für Revisionen gegen Urteile der kleinen Strafkammern. Denn auch nach der Entscheidung des Berufungsgerichts kann die jeweils andere Seite noch von dem Rechtsmittel der Revision Gebrauch machen.
Zu Artikel 3 (Inkrafttreten)
Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes. Die Rechtsänderungen sollen am Tage nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten.