6. Der Bundesrat sieht keine Notwendigkeit, über die von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aufgestellten Grundsätze hinaus Regelungen zur schriftlichen Übersetzung von Unterlagen zu treffen.
Insbesondere wird es nicht für geboten erachtet, zwingend eine schriftliche Übersetzung wichtigen Beweismaterials sowie des Urteils vorzusehen. Der EGMR hat festgestellt, dass nicht jedes Schriftstück übersetzt werden muss, solange ein faires Verfahren sichergestellt ist. Eine Übersetzung von Beweismaterial ist schon deshalb nicht notwendig, weil alle Beweise mündlich in der Hauptverhandlung erhoben werden und ein Urteil nur auf dieser Hauptverhandlung - und nicht auf dem Akteninhalt - beruhen kann. Der schriftlichen Übersetzung bedürfen auch nicht Urteile, die in Anwesenheit des Angeklagten unter Mitwirkung eines Dolmetschers verkündet und begründet worden sind.
Zudem ist zu bedenken, dass umfangreiche Übersetzungen zu Verfahrensverzögerungen führen können, die nach Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 Halbsatz 2 und Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK zu vermeiden sind. Während der entsprechende Richtlinienvorschlag von 13 Mitgliedstaaten (Ratsdok. 16801/09) Details der Rechte der Beschuldigten zum Teil in das Ermessen der Mitgliedstaaten stellt, gibt der Kommissionsvorschlag eine starre Regelung vor, die eine Anpassung an die in den Mitgliedstaaten teilweise unterschiedlichen Prozessgrundsätze nicht ermöglicht. Das zeigt sich besonders deutlich bei einem direkten Vergleich von Artikel 3 der beiden konkurrierenden Vorschläge. Der Vorschlag der Mitgliedstaaten sieht dort eine Übersetzung von "allen Unterlagen, die unerlässlich sind, [...] oder zumindest der wichtigen Passagen solcher Unterlagen" vor und bestimmt, dass die zuständigen Behörden darüber entscheiden, welches unerlässliche, zu übersetzende Unterlagen sind. Auch ist vorgesehen, dass anstelle einer schriftlichen Übersetzung eine mündliche Zusammenfassung der Unterlagen treten kann, wenn dies einem fairen Verfahren nicht entgegensteht. Demgegenüber verlangt der Kommissionsvorschlag strikt eine schriftliche und vollständige Übersetzung der maßgeblichen Unterlagen. Eine solche Regelung würde sowohl der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege als auch in vielen Fällen eklatant den Interessen des Beschuldigten zuwiderlaufen. Der Kommissionsvorschlag geht über die von dem EGMR aufgestellten Grundsätze zur Erforderlichkeit der Übersetzung von Unterlagen für Beschuldigte deutlich hinaus. Insbesondere wird es von dem EGMR entgegen dem Kommissionsvorschlag nicht für geboten erachtet, zwingend eine Übersetzung allen wichtigen Beweismaterials vorzusehen. Der EGMR hat vielmehr festgestellt, dass nicht jedes relevante Schriftstück übersetzt werden müsse, solange ein faires Verfahren sichergestellt sei. Der Vorschlag der Mitgliedstaaten wird der vorbezeichneten Rechtsprechung mehr als gerecht.
Gegen den Kommissionsvorschlag spricht ferner, dass er aufgrund seiner starren Regelungsvorgabe dem Anspruch des Beschuldigten auf beschleunigte Verfahrensführung nicht ausreichend Rechnung trägt. Vor allem in komplexen Ermittlungsverfahren mit umfangreichem Schriftmaterial kann eine Übersetzung aller maßgeblichen Unterlagen zu schwerwiegenden Verfahrensverzögerungen führen, die den Interessen des Beschuldigten zuwiderlaufen und nach Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK gerade zu vermeiden sind. Dies gilt in besonderem Maße für Beschuldigte, die sich in Untersuchungshaft befinden (Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 EMRK). § 121 StPO setzt die zulässige Gesamtdauer der Untersuchungshaft auf sechs Monate fest, die nur ausnahmsweise und nur auf Anordnung des Oberlandesgerichts überschritten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Gerade in komplexen Verfahren der Schwerkriminalität könnte eine zu weitgehende Verpflichtung zur schriftlichen Übersetzung von Aktenbestandteilen zu dem Beschuldigten nicht zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen führen, die die Oberlandesgerichte zur Aufhebung von Haftbefehlen veranlassen könnten.
Vor diesem Hintergrund begrüßt der Bundesrat Überlegungen, anstelle einer schriftlichen Übersetzung auch eine mündliche Übersetzung bzw. eine mündliche Zusammenfassung des Inhalts der Schriftstücke ausreichen zu lassen. Für entbehrlich hält der Bundesrat indes, dass die mündliche Übersetzung in Gegenwart eines Juristen erfolgen muss und dass eine vollständige Aufzeichnung der mündlichen Übersetzung bzw. der Zusammenfassung aufbewahrt wird.
Soweit sprachunkundige Angeklagte durch fehlende Übersetzungen benachteiligt werden könnten, kann dies sachgerecht dadurch ausgeglichen werden, dass für sie ein Verteidiger bestellt wird. In diesem Fall entfällt das Bedürfnis für die Übersetzung weiterer Aktenbestandteile und das Verfahren kann - auch im Interesse des Angeklagten - beschleunigt werden.
Unabhängig von diesen grundsätzlichen Bedenken hält der Bundesrat es jedenfalls weiterhin für erforderlich, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte bestimmen, welche Dokumente "wichtiges Beweismaterial" sind. Der Richtlinienvorschlag lässt im Übrigen ungeklärt, wie sich das Recht auf schriftliche Übersetzung von Unterlagen - insbesondere Beweismittel - zum Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten verhält. Der Bundesrat hält es an dieser Stelle weiterhin für erforderlich klarzustellen, dass das Recht auf Übersetzung unter dem Vorbehalt steht, dass bezüglich der zu übersetzenden Aktenteile auch ein Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten bzw. des Verteidigers besteht. Es kann nicht Ziel des Richtlinienvorschlags sein, nicht sprachkundige Beschuldigte besser zu stellen als Beschuldigte, die der Verfahrenssprache mächtig sind.