Der Bundesrat hat in seiner 826. Sitzung am 13. Oktober 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission in der vorliegenden Fassung nicht akzeptiert werden kann und abzulehnen ist.
Der Bundesrat bittet deshalb die Bundesregierung im weiteren Verfahren gegenüber der EU darauf hinzuwirken, den Verordnungsentwurf abzulehnen.
- 2. Der Bundesrat begrüßt alle wirkungsvollen Vorschläge der Kommission zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Allerdings müssen diese Vorschläge auch zu einem tatsächlichen Sicherheitsgewinn führen und dürfen keine unverhältnismäßige Bürokratie verursachen.
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der von der Kommission vorgelegte Verordnungsvorschlag zur Verbesserung der Sicherheit der Lieferkette, mit dem der Güterverkehr vor terroristischen Bedrohungen geschützt werden soll, diesen Vorgaben jedoch nicht gerecht wird. Mit dem Verordnungsvorschlag will die Kommission - ergänzend zu den bereits bestehenden Regelungen zur Sicherheit des Luft- und Schiffverkehrs - ein System zur Sicherheit des Landverkehrs schaffen und so die Sicherheit der gesamten Lieferkette gegenüber terroristischen Angriffen verbessern. Im Kern schlägt die Kommission eine freiwillige Zertifizierung "zuverlässiger Unternehmen" vor, die bestimmte Sicherheitsstandards garantieren und damit vereinfachte Verfahren bei Zoll und Außengrenzen in Anspruch nehmen können, ohne dabei nach der objektiven Gefährlichkeit der transportierten Güter bzw. des jeweils tätigen Transport- und Logistikunternehmens zu differenzieren.
Als Vorbild dienen Konzepte im Bereich der gemeinschaftlichen Zollvorschriften und der zivilen Luftfahrt sowie dem Seeverkehr. Dort ist durch Verordnung der EU die Zertifizierung des "zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten" und des "reglementierten Beauftragen" geschaffen worden. Die Kontrolle beschränkt sich dort auf bestimmte neuralgische Punkte. Der Landverkehr aber ist flächendeckend und damit ist der erforderliche Aufwand für die Kontrolle und auch das Aufkommen in diesem Verkehrsbereich, anders als bei den beiden anderen Verkehrswegen, unverhältnismäßig viel größer.
- 3. Das vorgeschlagene Zertifizierungsverfahren begegnet unter dem Gesichtspunkt der Effizienz und der Notwendigkeit grundlegenden Bedenken.
Das Verordnen einer Zertifizierung, der Aufbau einer Verwaltung für deren Prüfung, das Wahrnehmen von Kontaktfunktionen usw. bedeuten für die Unternehmen und die Verwaltungen der Mitgliedstaaten einen erheblichen bürokratischen Aufwand, dessen Nutzen zwar behauptet, aber nicht belegt wird. Nach Schätzungen der Kommission müssten die Mitgliedstaaten 39 Mio. Euro für die Errichtung nationaler Überwachungsbehörden aufwenden. Die Überprüfung der Unternehmen zur Erteilung des Status "zuverlässiges Unternehmen" würde jährliche Kosten vom 90 Mio. Euro verursachen (Refinanzierung durch Gebühren möglich).
Allen Transportunternehmen, die sich an dieser Zertifizierung beteiligen, entstehen unabhängig von ihrer individuellen Gefährdungssituation zusätzliche Kosten in Milliardenhöhe, die nur in den wenigsten Fällen im Hinblick auf den beabsichtigten Schutz vor terroristischen Anschlägen verhältnismäßig und gerechtfertigt sein dürften.
Auf die freiwillig teilnehmenden Unternehmen kämen in einem Zeitraum von fünf Jahren Kosten in Höhe von 2,1 Mrd. Euro jährlich zu. Dabei wird die freiwillige Teilnahme nur auf knapp 20 % der Unternehmen geschätzt.
Daher ist zu befürchten, dass der effektive Nutzen der Zertifizierungsverfahren im Hinblick auf die Herstellung von mehr Schutz gegen Sabotageakte gering ist.
- 4. Der Grundsatz der freiwilligen Zertifizierung verschleiert den quasi-obligatorischen Charakter der Verordnung.
Eine fehlende Zertifizierung kann zwar keinerlei Folgen, wie etwa den Ausschluss des betreffenden Unternehmens von der Teilnahme am Landverkehr haben, denn dies käme praktisch einem Berufsverbot gleich.
Nicht zertifizierte Unternehmen würden aber empfindliche Wettbewerbsnachteile bei Zoll und Außengrenzen erfahren.
Im Ergebnis wäre, trotz aufwändiger Zertifizierung einiger Unternehmen, keine größere Sicherheit der Lieferkette zu erreichen.
- 5. All dies stünde nicht nur im Widerspruch zur angestrebten Deregulierung sowie Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen der Lissabon-Strategie. Auch der möglicherweise erreichbare Sicherheitsgewinn würde nicht den hohen flächendeckenden Verwaltungsaufwand im Güterverkehr rechtfertigen. Effektive und zugleich verhältnismäßige Maßnahmen im Kampf gegen die Terrorgefahr im Güterverkehr müssten sich vielmehr klar an den unternehmensspezifischen und infrastrukturbezogenen Gefährdungspotenzialen ausrichten.
Auch die von der Kommission selbst genannten Rechtsgrundlagen für den Verordnungsvorschlag, nämlich Artikel 71 und Artikel 80 Abs. 2 EGV, sind fraglich, weil beide Bestimmungen die EU lediglich zu Rechtsakten auf dem Gebiet einer "gemeinsamen Verkehrspolitik" im Kontext der Grundfreiheiten der Gemeinschaft ermächtigen, nicht aber zu Maßnahmen im Rahmen der Antiterrorpolitik.
- 6. Neben diesen grundsätzlichen Bedenken weist der Bundesrat auf folgende Kritikpunkte an der Verordnung hin:
- - Nach Auffassung des Bundesrates ist die in Artikel 5 Abs. 1 genannte Frist von 18 Monaten für die Schaffung einer Regelung zur Verleihung des Status als "zuverlässiges Unternehmen" zu kurz bemessen.
- - Die in Artikel 6 genannten Vorteile für "zuverlässige Unternehmen" sollten detaillierter dargestellt werden. Es sind keine Erleichterungen ersichtlich, die es nicht durch zum Teil freiwillige Zertifizierungsverfahren bereits gibt. Im Übrigen sind in Artikel 6 Abs. 3 und 4 Regelungen enthalten, die keine Vorteile für "zuverlässige Unternehmen" gewähren.
- - Die Verleihung des Status als "zuverlässiges Unternehmen" für die Dauer von drei Jahren (Artikel 8 Abs. 2) ist nach Auffassung des Bundesrates zu kurz bemessen.
- - In Artikel 8 Abs. 1 sollte eine Klarstellung erfolgen, dass Unternehmen, die die in Artikel 3 Abs. 3 Buchstaben a bis c genannten Gemeinschaftsvorschriften erfüllen, den Status "zuverlässiges Unternehmen" i. S. des vorliegenden Verordnungsvorschlags erhalten.
Artikel 8 Abs. 1 des Verordnungsvorschlags regelt die Voraussetzungen für die Verleihung des Status "zuverlässiges Unternehmen". Gemäß Artikel 8 Abs. 1 Buchstabe e erhalten Unternehmen diesen Status, wenn sie nachweisen, dass sie die in Artikel 3 Abs. 3 genannten Vorschriften - sofern anwendbar - erfüllen. In Artikel 3 Abs. 3 Buchstaben a bis c werden die Gemeinschaftsvorschriften zur Verbesserung der Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen sowie die für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt aufgeführt.
Die Betreiber der See- und Flughäfen haben auf der Basis dieser Gemeinschaftsvorschriften bereits umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, die in den jeweiligen Gefahrenabwehrplänen geregelt sind. Daher ist es nicht notwendig, die zertifizierten Unternehmen darüber hinaus noch den Anforderungen des vorliegenden Verordnungsvorschlags, der für den Landverkehr gelten soll, zu unterwerfen. Dies ist offensichtlich von der Kommission auch nicht gewollt. Die Kommission weist an mehreren Stellen des Verordnungsvorschlags darauf hin, dass die Bestimmungen des Vorschlags in Ergänzung zu den bereits bestehenden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Luft- und Seeverkehr zu sehen sind und für den Landverkehr gelten.
Auch in Nummer 3 der Begründung zu dem Verordnungsvorschlag weist die Kommission unter dem zweiten Spiegelstrich darauf hin, dass die Sicherheit der Lieferkette bereits bestehende Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Luft- und im Seeverkehr, einschließlich Flughäfen und Seehäfen, ergänzt.
Aus diesen Passagen ergibt sich hinreichend, dass die See- und Flughäfen, für die bereits gesonderte Regelwerke gelten, von dem vorliegenden Verordnungsvorschlag nicht erfasst werden sollen. Vielmehr ist Ziel dieses Verordnungsvorschlags, für den Landverkehr in Ergänzung zu den bestehenden Vorschriften für den See- und Luftverkehr ein Regelwerk zu schaffen.
- - Die in den Artikeln 13 und 14 enthaltenen Regelungen zur Anpassung und zum Ausschussverfahren haben erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Behörden in den Mitgliedstaaten. Nach Auffassung des Bundesrates sollten diese Verfahren nicht ausschließlich durch die Kommission erfolgen; vielmehr ist eine Beteiligung der Mitgliedstaaten erforderlich.
- 7. Im Übrigen ist der Bundesrat der Auffassung, dass vor Erlass eines solch weitgehenden Rechtsaktes die Kommission aufgefordert werden sollte, zuerst eine belastbare Risikoanalyse zu erarbeiten und die bestehenden Gefährdungspotentiale zu bewerten. Darauf basierend sollte nicht ein Verordnungsvorschlag, sondern ein Richtlinienvorschlag erarbeitet werden, der sowohl auf die in Europa bereits bestehenden Regelungen zur Abwehr terroristischer Gefahren als auch auf andere bestehende Regelungen verweist und diese als vergleichbar und geeignet anerkennt.