Punkt 22 der 895. Sitzung des Bundesrates am 30. März 2012
Der Bundesrat möge beschließen, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
Zu Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen
Der Bundesrat bittet im weiteren Gesetzgebungsverfahren sicherzustellen, dass dem Gebot der therapeutischen Vielfalt in der medizinischen Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend Rechnung getragen wird und dabei die Eigenheiten der besonderen Therapierichtungen Berücksichtigung finden. Die Verordnungsfähigkeit nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel als Therapiestandard sollte allein nach der sogenannten Binnenanerkennung erfolgen, der eine der jeweiligen Therapierichtung angemessene Evaluationsmethodik zu Grunde liegt. Ohne eine rechtliche Klarstellung bestünde die Gefahr, dass die Versicherten keinen Sachleistungsanspruch gegen ihre gesetzliche Krankenkasse geltend machen können.
Begründung:
Gemäß § 34 Absatz 1 Satz 2 SGB V legt der Gemeinsame Bundesausschuss in den Arzneimittel-Richtlinien fest, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, zur Anwendung bei diesen Erkrankungen ausnahmsweise verordnet werden können (sogenannte OTC-Ausnahmeliste). Nach Satz 3 der Vorschrift hat der Gemeinsame Bundesausschuss dabei der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu tragen. Das Gebot therapeutischer Vielfalt bedeutet insbesondere, dass die Eigenheiten besonderer Therapierichtungen zu berücksichtigen sind.
Mit Urteil vom 11. Mai 2011 hat das Bundessozialgericht diesem Gebot eine im Verhältnis zu § 34 Absatz 1 Satz 2 SGB V nachrangige Bedeutung beigemessen. Danach sind nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel lediglich innerhalb des zuvor festgestellten Therapiestandards der Schulmedizin zu berücksichtigen. Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen müssen danach sowohl dem Therapiestandard einschließlich der Anwendungsvoraussetzungen eines Arzneimittels der Schulmedizin für eine schwerwiegende Erkrankung entsprechen, als auch Therapiestandard in ihrer besonderen Therapierichtung sein.
Diese Sichtweise lässt das Gebot der therapeutischen Vielfalt faktisch weitgehend leerlaufen, weil Standardtherapeutika der besonderen Therapierichtungen in der Regel nicht gleichzeitig auch den Therapiestandard (einschließlich der Anwendungsvoraussetzungen) der Schulmedizin erfüllen. Nach dem Grundsatz der Binnenanerkennung ist aber der Bewertung der Qualität und Wirksamkeit von Behandlungsmethoden und Medikationen der Erkenntnisstand der jeweiligen Therapierichtung, also die aus Sicht der Therapierichtung gegebene besondere Wirksamkeit, zugrunde zu legen.
Damit ist im Ergebnis die Verordnungsfähigkeit nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erheblich eingeschränkt. Dies steht nicht im Einklang mit der Auffassung des Gesetzgebers, der davon ausging, dass sich die besonderen Therapierichtungen der Homöopathie und Anthroposophischen Medizin in methodischer Hinsicht von der Schulmedizin unterscheiden, ohne dass einer der Therapierichtungen per se ein höherer Stellenwert zukäme (vgl. BT-Drucksache 011/3480 S. 34 und 49). Er ging von der Tatsache aus, dass auf dem Gebiet der Arzneimitteltherapie mehrere Therapierichtungen nebeneinander bestehen, die von unterschiedlichen theoretischen Denkansätzen und wissenschaftlichen Methoden ausgehen.