881. Sitzung des Bundesrates am 18. März 2011
A
Der federführende Wirtschaftsausschuss (Wi) und der Finanzausschuss (Fz) empfehlen dem Bundesrat, zu dem Jahresgutachten 2010/11 des Sachverständigenrates gemäß § 6 Absatz 1 SachvRatG und zu dem Jahreswirtschaftsbericht 2011 der Bundesregierung gemäß § 2 Absatz 1 StabG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat teilt die Auffassung des Sachverständigenrates und der Bundesregierung, dass zur erfreulichen konjunkturellen Entwicklung im vergangenen Jahr neben der Erholung des Welthandels und dem besonnenen Verhalten der Tarifpartner auch die Politik ihren Anteil geleistet hat. Die Konjunkturpakete I und II der Bundesregierung, die verschiedenen Konjunkturprogramme der Länder, die steuerlichen Entlastungen im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes sowie insbesondere die Erleichterungen bei der Inanspruchnahme der Kurzarbeit haben zu einer Stabilisierung der inländischen Nachfrage und zur Sicherung zahlreicher Beschäftigungsverhältnisse beigetragen.
- 2. Der Bundesrat teilt die Auffassung des Sachverständigenrats und der Bundesregierung, dass zur erfreulichen konjunkturellen Entwicklung im vergangenen Jahr nicht zuletzt die Konjunkturpakete I und II des Bundes, die verschiedenen Konjunkturprogramme der Länder und die steuerlichen Entlastungen im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes beigetragen haben. (entfällt bei Annahme von Ziffer 1)
- 3. Der Bundesrat ist erfreut über die Arbeitsmarktentwicklung des vergangenen Jahres, die mit einem Höchststand bei der Erwerbstätigkeit und dem Sinken der Arbeitslosigkeit unter die Drei-Millionen-Marke im Herbst einherging.
- 4. Besonders betont er, dass das Gros der neu geschaffenen Arbeitsplätze im sozialversicherungspflichtigen Bereich entstanden ist. Gleichzeitig warnt der Bundesrat davor, die erzielten Erfolge auf dem Arbeitsmarkt, die zu einem Gutteil den Flexibilisierungen in den vergangenen Jahren zu verdanken sind, durch regulatorische Eingriffe zu konterkarieren. So lehnt er aus ordnungspolitischen Gründen Eingriffe in die Tarifautonomie, beispielsweise durch die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns, ab. Die Gestaltung der Zeitarbeit und ihre Weiterentwicklung ist darüber hinaus den Tarifparteien zu überlassen. Stattdessen unterstützt der Bundesrat die Vorhaben der Bundesregierung, durch eine Entschlackung der Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik und eine Reform der Hinzuverdienstregelungen beim Arbeitslosengeld II die Integration Erwerbsloser in den Arbeitsmarkt effektiver zu gestalten.
- 5. Der Bundesrat begrüßt, dass die konjunkturelle Erholung nicht mehr ausschließlich exportgetrieben ist, sondern der Aufschwung inzwischen an Breite gewonnen hat und auch der private Konsum sowie die Investitionen kräftig zulegen. Angesichts der bestehenden positiven Aussichten für die Konjunktur im Jahr 2011 unterstützt er ausdrücklich die Exitstrategie der Bundesregierung aus den staatlichen Stützungsmaßnahmen.
- 6. Die Wirtschaftspolitik muss sich fortan wieder auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und mittels einer konsequent marktwirtschaftlich ausgerichteten Politik die Wachstumskräfte der Volkswirtschaft stärken.
- 7. Der Bundesrat ist besorgt über das inzwischen erreichte Ausmaß der Staatsverschuldung. Er sieht in der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen die größte finanzpolitische Herausforderung der kommenden Jahre. Er begrüßt vor diesem Hintergrund {die Verschärfung} [die Aufnahme] der Schuldenregel {im} [in das] Grundgesetz. Das Zukunftspaket der Bundesregierung bewertet er als ersten wichtigen Schritt, um die Schuldenregel auf Bundesebene einzuhalten. (Es trägt maßgeblich dazu bei, dass Deutschland an den internationalen Kapitalmärkten als Stabilitätsland wahrgenommen wird und somit die Finanzierungsbedingungen für Staat und Wirtschaft im internationalen Vergleich günstig sind.) Angesichts knapper öffentlicher Kassen sind weitere Sparanstrengungen auf der Ausgabenseite verbunden mit einer qualitativen Schwerpunktsetzung erforderlich.
- 8. (bei Annahme entfällt Ziffer 9)
- 9. (entfällt bei Annahme von Ziffer 8)
- 10. (Wi)
- 11. In diesem Zusammenhang ist der Ansatz der Bundesregierung zu begrüßen, die Finanzmittel für Bildung und Forschung als Investitionen in die Zukunft weiter zu erhöhen. Nach Ansicht des Bundesrates sollte geprüft werden, diese Strategie durch die Einführung einer steuerlichen Förderung von FuE-Ausgaben insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen zu flankieren.
- 12. Der Bundesrat stimmt mit der Meinung des Sachverständigenrates überein, dass die Haushaltskonsolidierung derzeit Priorität gegenüber größeren Steuersenkungen genießt. Allerdings mahnt er an, die Ziele einer steuerlichen Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen und eines Abbaus der kalten Progression in der Einkommensbesteuerung weiter zu verfolgen. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, alle Möglichkeiten für systematische, weitgehend aufkommensneutrale Verbesserungen des Steuerrechts zu nutzen. Die hierzu von der Bundesregierung vor allem im Arbeitnehmerbereich bereits geplanten Maßnahmen werden begrüßt. Darüber hinaus werden aber auch weitere Vereinfachungen und Entlastungen für Unternehmen kurzfristig für notwendig erachtet. Dazu gehören die dauerhafte Beibehaltung der Ist-Besteuerungsgrenze von 500.000 Euro bei der Umsatzsteuer, eine Vereinfachung der Dienstwagenbesteuerung und die Anhebung der Grenze für geringwertige Wirtschaftsgüter. Ebenso notwendig sind eine Reform der Gemeindefinanzen sowie eine Entschlackung des Anwendungsbereichs des ermäßigten Steuersatzes in der Mehrwertsteuer. (bei Annahme entfällt Ziffer 13)
- 13. Der Bundesrat sieht wie der Sachverständigenrat die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte als prioritäres Ziel. Allerdings sollte eine steuerliche Entlastung niedriger und mittlerer Einkommen weiter verfolgt werden, sobald hierfür ausreichende finanzielle Spielräume vorhanden sind. Daneben hält es der Bundesrat für erforderlich, den eingeschlagenen Kurs zur Vereinfachung des Steuerrechts konsequent fortzusetzen. Das hierzu von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Maßnahmenpaket wird begrüßt. Auch eine Reform der Gemeindefinanzen, die sowohl eine Verstetigung der kommunalen Steuereinnahmen als auch eine Verbesserung der Standortattraktivität im Blickfeld hat, muss gemeinsam mit den Kommunen weiter verfolgt werden. (entfällt bei Annahme von Ziffer 12)
- 14. Der Bundesrat unterstützt ausdrücklich die Forderung des Sachverständigenrates nach rentenpolitischer Standfestigkeit. Die durch die Reformen in den vergangenen Jahren erreichten Erfolge zur Stabilisierung der Finanzlage der Gesetzlichen Rentenversicherung dürfen nicht verspielt werden. Daher sind die nachzuholenden Kürzungen bei der Rentenanpassung ebenso umzusetzen wie der beschlossene Einstieg in die "Rente mit 67" ab dem Jahr 2012.
- 15. Der Bundesrat äußert seine Besorgnis über den abzusehenden Mangel an fachlich qualifizierten Arbeitskräften. Bereits heute fällt es den Arbeitgebern in einigen Berufsfeldern und/oder Regionen schwer, geeignetes Fachpersonal zu gewinnen. Angesichts des bevorstehenden demographischen Wandels dürfte sich dieses Problem mittel- bis langfristig verschärfen. Aus diesem Grunde muss die Politik frühzeitig durch entsprechende Maßnahmen gegensteuern. Der Bundesrat begrüßt vor diesem Hintergrund den Ansatz der Bundesregierung, das inländische Potenzial an Arbeitskräften zu mobilisieren, indem die Voraussetzungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter verbessert, die Arbeitsbedingungen stärker auch auf ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgerichtet und die Anstrengungen im Bereich Bildung und Qualifizierung intensiviert werden. Der Bundesrat sieht in diesem Zusammenhang auch die Unternehmen gefordert, durch verstärkte Anstrengungen bei der Aus- und Weiterbildung ihren Beitrag zur Bekämpfung des drohenden Fachkräftemangels zu leisten. Die Gewinnung geeigneten Personals liegt im ureigensten Interesse der Unternehmen und sichert langfristig deren Wettbewerbsfähigkeit. Darüber hinaus müssen die Rahmenbedingungen für eine gesteuerte und qualifizierte Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte, auch bereits für den Prozess der Arbeitssuche, verbessert werden etwa durch den Wegfall der Vorrangprüfung in bestimmten Arbeitsmarktsegmenten oder mittelfristig die Einführung eines Punktesystems für eine Zuwanderung ohne konkreten Arbeitsplatznachweis nach kanadischem oder australischem Vorbild. Zu prüfen sind auch Vorschläge, das für die Erlangung eines Aufenthaltstitels geforderte Mindesteinkommen für ausländische Arbeitnehmer abzusenken.
- 16. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Bundesregierung, dass die steigende Nachfrage an den internationalen Rohstoffmärkten sowie die stark schwankenden und tendenziell steigenden Preise ein Risiko für die deutsche Wirtschaft darstellen. Vor allem die Preise nichtenergetischer Metalle, wie zum Beispiel Kupfer, aber auch von Agrarrohstoffen sowie von Nahrungs- und Genussmitteln haben sich deutlich verteuert. Weitere Preissteigerungen sind auf Grund der nach wie vor expansiven Geldpolitik zahlreicher Notenbanken, des weiterhin dynamischen Weltwirtschaftswachstums und der zunehmenden Nachfrage nach Rohstoffen von Seiten der Schwellenländer nicht auszuschließen. Zudem können Spekulationen an den Finanzmärkten und künstliche Marktbeschränkungen durch wichtige Rohstoffländer vorübergehend zu deutlichen Verknappungen und Preisbewegungen bei einzelnen Rohstoffen wie derzeit zum Beispiel bei den Seltenen Erden führen. Vor diesem Hintergrund werden die aktuellen Bemühungen der Bundesregierung zur Rohstoffsicherung ausdrücklich begrüßt. Mit ihrer marktwirtschaftlich ausgerichteten Rohstoffstrategie setzt die Bundesregierung ein wichtiges Signal, um die Verfügbarkeit von Rohstoffen für die deutsche Wirtschaft weiterhin sicherzustellen.
- 17. Der Bundesrat äußert seine tiefe Besorgnis über die Staatsschuldenkrisen in einigen Euro-Ländern und die davon ausgehenden möglichen Gefahren für die Stabilität der Europäischen Währungsunion. [Es ist eine der dringendsten gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Aufgaben, das institutionelle Gefüge der Währungsunion neu aufzustellen und die zu Tage getretenen Schwachstellen zu beseitigen.] Der Bundesrat spricht sich daher für eine Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts aus, die unter anderem in einer größeren Berücksichtigung der Schuldenstandsquote, einem wirkungsvolleren Sanktionsmechanismus sowie einem weitgehenden Automatismus bei der Einleitung von Defizitverfahren zum Ausdruck kommen sollte. Der Bundesrat lehnt {hingegen} Bestrebungen ab, durch eine Änderung der Berechnungsmethoden für das staatliche Haushaltsdefizit diese weiter aufzuweichen, wie von der Kommission bei den Kosten der Reformen der Rentensysteme vorgeschlagen.
- 19. Der Bundesrat betont, dass der Europäische Rettungsschirm helfen kann, Liquiditätsprobleme einzelner Staaten zu überbrücken, nicht aber als Schutz vor Insolvenz dienen kann. Um Liquiditätsprobleme zu lösen, reicht der bestehende Spielraum aus. Eine weitere Aufstockung des Rettungsschirms, den Ankauf von Anleihen der Krisenländer über Mittel des Rettungsschirms oder die Ausgabe von gemeinsamen Anleihen der Mitgliedstaaten (Eurobonds) lehnt der Bundesrat ab, da dies auf eine Ausweitung der Haftungsgemeinschaft hinauslaufen sowie Schritte in Richtung Transferunion und damit eine Umgehung des "No bail out"-Grundsatzes darstellen würde. Für die Zeit nach dem Auslaufen des Rettungsschirms hält der Bundesrat die Einrichtung eines ständigen Krisenmechanismus" im Euro-Währungsgebiet im Zuge einer begrenzten Vertragsänderung und unter Beibehaltung der "No bail out"-Klausel für erforderlich.
- 20. Der Bundesrat bekräftigt, dass darüber hinaus auf EU-Ebene Regelungen für eine geordnete Insolvenz überschuldeter Mitgliedstaaten geschaffen werden müssen. Entscheidend ist, dass dabei das Haftungsprinzip gestärkt wird und bei Zahlungsunfähigkeit von Mitgliedstaaten zunächst das Schuldnerland, dann private Gläubiger und erst zum Schluss die Staatengemeinschaft herangezogen werden. Nur das Risiko einer geordneten Insolvenz, verbunden mit einer Beteiligung privater Gläubiger, schafft für die Euroraum-Mitglieder wirklich starke Anreize, für stabile Staatsfinanzen zu sorgen. Die Erfahrung der Vergangenheit lehrt, dass rein politische Auflagen oder die Androhung von finanziellen Sanktionen nicht den gleich hohen Anreiz setzen, der durch die Märkte erreicht werden kann. Restrukturierung und Insolvenzverfahren sollen Rechts- und Verfahrenssicherheit schaffen, systemische Risiken vermeiden und die Beteiligung aller Gläubiger regeln. Die überschuldeten Mitgliedstaaten müssen verpflichtet werden, ein Sanierungskonzept mit Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen umzusetzen, das die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen wiederherstellt.
- 21. Der Bundesrat stimmt mit dem Sachverständigenrat überein, dass Deutschland derzeit die Früchte eines lang anhaltenden Reformprozesses erntet[, in dessen Folge es vom "kranken Mann Europas" zum Motor des wirtschaftlichen Erholungsprozesses in Europa geworden ist] und diese Erfolge nicht auf Kosten anderer Staaten des Euro-Währungsgebiets entstanden sind. Zwar sind die Bestrebungen für eine größere Abstimmung der Wirtschaftspolitiken in der Europäischen Union grundsätzlich zu begrüßen, jedoch ist ein Abbau bestehender makroökonomischer Ungleichgewichte nicht über eine Schwächung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Überschussländer zu erreichen. Der Bundesrat vertritt vielmehr die Auffassung, dass es vorrangig Aufgabe der wettbewerbsschwachen Länder ist, strukturelle Reformen einzuleiten. Ohne eine nachhaltige Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ganz Europas ist auch eine nachhaltige Konsolidierung der nationalen Haushalte nicht möglich. Der Bundesrat unterstützt daher den Ansatz der Bundesregierung, über einen "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit" die nationalen Wachstumsperspektiven in den Ländern der Europäischen Union zu verbessern. Es muss Anspruch der europäischen Politik sein, sich nicht am europäischen Durchschnitt, sondern an erfolgreichen internationalen Wettbewerbern zu orientieren. Weitere Kompetenzen an die EU abzutreten, lehnt der Bundesrat in diesem Zusammenhang jedoch ab.
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- 23. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik und der Gesundheitsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von dem Jahresgutachten 2010/11 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gemäß § 6 Absatz 1 des Sachverständigenratsgesetzes Kenntnis zu nehmen.
- 24. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik, der Gesundheitsausschuss, der Ausschuss für Kulturfragen und der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfehlen dem Bundesrat, von dem Jahreswirtschaftsbericht 2011 der Bundesregierung gemäß § 2 Absatz 1 des Gesetzes zur Förderung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes Kenntnis zu nehmen.